Paula Pantoffeltierchens Drogentrip mit Nikki dem Clown, Schachtmenschen, Mördern und einer Aberratio Mentalis Partialis

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    Nik

    Registriert seit: 24.04.2011

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    Ich hätte niemals damit gerechnet, dass dieser Tag jemals kommen würde, jetzt ist er aber da, und ich duelliere mich hier im edlen Stil des 17. Jahrhunderts mit der russischen Zarin und Hansehändlerin von palez. Wie ein Bonobo mit Kacke bewirft sie mich dabei mit einem kruden Mix aus depressiven Postpunk und Waveformen und -abarten, und noch so einigem anderen Zeugs, bei mir wirds hingegen eine bunte Haribotüte mit Zirkuskrankheiten, Dröhnklangfeldern und Heulmusik.
    Da wir beide glücklicherweise etwas daneben sind, kommt hier der wohl längste Eröffnungspost aller Zeiten, also könnt ihr euch die Zeit nehmen, ihn durchzulesen, oder auch einfach nur fünf Minuten abwärts scrollen. Die Playlists mache ich dann einfach als zweiten Eintrag.
    Dann auf zu einee Reise zu verrückten Mördern, Schachtmenschen, Film Noir, Woyzeck, Zirkus und einem wannabe-depressiven Clown.

    Palez Story:

    Es war einmal ein arm Kind: Mörder
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    Sein erster Mord war gar kein Mord. Würde er später sagen. Er hätte nicht die Absicht gehabt, die Göre umzulegen, er wollte sie nur n bisschen jagen. Sich n wenig abreagieren. Dann war sie halt tot. Könnte er ja nichts für, wenn die da reinfiel und nicht wieder rauskam. Er hätte sie ja nicht mal richtig gesehen. Aber um ehrlich zu sein, würde es ihm nicht besonders viel ausmachen, dass sie tot war und dass sie tot war durch seine Einwirkung. Ehrlich zu sein ist ihm schon immer leicht gefallen. Er hielt sich nie mit seiner Meinung oder der sogenannten Wahrheit zurück. Bloß konnte er diese Eigenschaft nie zur Tugendhaftigkeit ausbauen. Sie war nur die Bestätigung, dass er tatsächlich der bösartige, dumme Soziopath war, für den man ihn hielt.

    The Soft Moon – Sewer Sickness
    Er hielt also das Jagdgewehr seines Vaters mit beiden Händen umklammert und stapfte durch den Schnee. Die Eiskruste knirschte unter seinen Füßen. Flügel flatterten in den schwankenden Ästen von Nadelbäumen, sobald ein Schuss fiel, die Eulen warnten ihre Artgenossen. Schnee fiel ihm auf dem Kopf, wenn er in der Nähe stand. Manchmal passierte nichts. Er hatte das Waldstück durchstreift, ging nun die Autobahn entlang zum alten Fabrikgebäude, um dort ein paar Fenster zu zerschlagen, es war noch immer erst später Nachmittag. Vor einigen Stunden war er von seiner Arbeit im Hafenlager entlassen worden. Als er die schwere Stahltür der Fabrik aufstoßen wollte, hielt er inne. Er hörte Kinderlachen, zwei Stimmen. Ganz langsam, mit einem langgezogenen Knarren machte er die Tür auf und merkte, wie das Lachen verstummte. Im Eingangsbereich schien niemand zu sein. Er feuerte zwei Schüsse ab. Nichts geschah. Einen weiteren. Weit weg das Hallen von raschen Schritten auf Metalltreppen. Blecherner Krach, hohe Schreie. Er ging in die Richtung, die sein Gehör ihm wies. Im schwachen Licht des Mondes und glänzender Maschinenteile sah er eine Silhouette. Er feuerte einen Schuss ab, absichtlich daneben. Das kleine Wesen schreckte auf und lief fort. Die Räume der Maschinenhalle waren weit und leer, hier konnte man sich nicht lange verstecken. Seine Schüsse waren ziellos und rhythmisch. Er schmeckte lechzend voraus, wie es wäre, das ängstliche Pochen des kleinen Herzens im Einklang mit den dumpfen Schlägen in seinen Schläfen zu spüren. Er war sich fast sicher, zu wissen, woher die Schritte kamen, als etwas krachte und es schlagartig still wurde. Er betrat einen kleinen Raum mit einem offenen Schacht. Feuerte ein paar Schüsse. Und ging.

    Seinen ersten Auftrag bekam er, nachdem die Leiche des Mädchens gefunden wurde. Der Kinnhaken und der Schlag in die Magengrube, mit denen ihn die Jungs aus der Hafenkneipe begrüßten, überraschten ihn nur im ersten Moment. Seine Schulden hatte er nicht vergessen, vor dem Hintergrund war mit kleinen Ermahnungen immer zu rechnen. Doch diesmal ließen sie sich nicht beschwichtigen. Sie wüssten alles. Sie wüssten von seiner Arbeitslosigkeit. Sie wüssten, dass er kurz davor sei, aus der Wohnung geschmissen zu werden. Und sie wüssten von dem Mädchen. Er lachte, winkte ab. Keine Ahnung, was sie ihm anhängen wollten, aber es würde nicht funktionieren. Da packte man ihn am Kragen, hob ihn einige Zentimeter hoch, sodass seine Fußspitzen kaum den Boden berühren konnten, und zischte ihm ins Gesicht: Er hätte auf ein kleines Mädchen geschossen, das keinem was getan hatte, wer das könne, könne auch einen umlegen, der es verdient hatte. Leute wie er hätten nicht frech zu werden und müssten sich jedes Mal, dass sie eine Chance auf Gnade verpassten, gut überlegen. Man setzte ihn wieder ab und reichte ihm einen Zettel mit Uhrzeit, Foto und Adresse.

    The Angels of Light – New City In The Future
    Seit einer halben Stunde kauerte er in der Gasse, schaute immer wieder hinaus auf die Straße und fror. Sein „Auftrag“ verspätete sich. In einigen Wohnungen brannte noch Licht. Schließlich sah er einen gebückten Mann im schwarzen Mantel den Fußgängerweg entlanggehen, es war der Mann auf dem Foto. Er atmete durch, befühlte zur Selbstvergewisserung die Tasche im Inneren seiner Jacke. Ließ ihm den Vorsprung, den nötigen Sicherheitsabstand. Und trat aus der Gasse heraus, um ihm zu folgen.

    Er trat genau in die Fußstapfen, die sein „Auftrag“ in den großen, frischgefallenen Schneeflocken hinterließ, taktete seine Bewegungen so, dass sie im Gleichklang mit denen seiner laufenden Zielscheibe waren. Wenn er es sich nur deutlich genug vorstellte, war er unsichtbar. Dennoch drehte der Mann im schwarzen Mantel sich um. Er laufe ihm schon seit der Gasse neben seinem Hauseingang hinterher, was zum Teufel wolle er von ihm. Er grinste seinen Auftrag an. Nannte einen Straßennamen, wie zufällig nahe am Ziel des Mannes in Schwarz, diese Straße suche er. Er hatte diese Sätze einige Male aufgesagt, als er in der Gasse saß und lauerte, nur für den Fall, dass. Der Mann in Schwarz knirschte mit den Zähnen, ließ ihn aber mitgehen. Er trottete hinter ihm her, immer nahe genug, um ihm im Zweifel einfach die Hände um den Hals zu legen. Die Straßenbeleuchtung erlosch. In keinem der Häuser brannte noch Licht. Nur der Mond leuchtete schummrig und blass durch die Wolken, es war Vollmond, wie damals in der Nacht des Fabrikgebäudes. Er schaute sich um. Enge Gasse, letzte Chance. Sein Auftrag machte keine Anstalten, in diese Gasse zu gehen, also half er nach; zerrte ihn hinein, schlug ihn nieder, rammte ihm seinen Ellenbogen in den offenstehenden Mund. Solange sein Auftrag seine Beine und Arme noch immer so heftig und ruckartig bewegte, kam er schlecht an die Waffe in seiner Jacke heran. Er warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf ihn, drückte dem Mann die Kehle zu, bis statt unterdrückten Schreien nur noch ein tonloses Röcheln und das Knacken von berstenden Knochen kamen. Als sein bereits erfüllter Auftrag unter ihm nicht mehr zuckte, holte er die Pistole aus der Jackentasche heraus, feuerte ein paar Sicherheitsschüsse. Er stand auf. Rang nach Luft. Und rief seine Auftraggeber an.

    Kiss It Goodbye – Sick Day
    So ging es weiter. Man gewöhnt sich an alles. Es waren immer die erstaunlich menschenleeren Orte und die Nacht, es waren immer nur Namen, Fotos, Uhrzeiten und Adressen. Er kannte die Leute nicht, er wusste nicht, weswegen sie sterben mussten. Meistens erschoss er sie, meistens ging es sehr schnell. Er schoss nicht gerne auf Distanz. Einige schnelle und gezielte Schläge, der Fuß auf dem Brustkorb. Er schaute seinen Aufträgen gerne in die Augen. So waren er und der Lauf seiner Pistole das Letzte, was sie sahen. Niemand schien diese Männer zu vermissen. Er nahm auch von anderen Aufträge an. Wieso sollte er sich nur von einer Gruppe und deren magerer Bezahlung abhängig machen. Mit seiner Leichtsinnigkeit hatte er sich ein Stück Freiheit erkauft. In seinen Augen war er ein einsamer und selbstbestimmter Söldner, den weder Moral noch Loyalität einspannen konnten, sondern nur bares Geld. Er hatte mehr von ihnen getötet, als sie sich ausmalen konnten. Vor ihm mussten sie alle Angst haben.

    Dennoch saß er in jeder Nacht ohne Auftrag im einzigen Zimmer seiner Wohnung, ohne Licht, weil die Glühbirne vor Wochen durchgebrannt war, und trank billigen Whiskey aus einer geklauten Flasche. Abgesehen von den Instruktionen redeten die Jungs nicht mehr mit ihm. Er war der Unberührbare, der Laufbursche des Todes, und die, die ihm die Briefe und Pakete mit dem mörderischen Inhalt übergaben, hatten Huren, Kokain, Absinth und seine Stammkneipe am Hafen, in der er nicht mehr gewesen war, seit er sich an den Job gewöhnt hatte. Er kannte nichts. Niemand kannte ihn. Er war unabdingbar, aber nicht unersetzlich. Er war praktisch unsichtbar. Menschliche Deponie, menschliche Tretmühle. Er war nicht geschaffen für Fließbandarbeit. Eine Hornhaut bildete sich um seine Knöchel.

    Swans – Beautiful Child
    Schüsse fallen, Benzinpfützen, Schritte. Das gleichmäßige Dröhnen der Sirenen kann sich nicht in die Musik der Straße eingliedern, wie immer. Er saugt die kalte Luft ein, dass seine Nase schmerzt. Sein Auftrag liegt durchlöchert und erfüllt in einer roten Lache. Seine Schicht ist noch nicht zu Ende. Er will die Fanfaren der Hölle hinter sich hören, einen blutroten Himmel, sterbende Engel. Solange er noch genug Munition hat, gehört jeder Moment ihm. Für das Nachspiel gibt es Schlagringe, Messer und seinen eigenen Körper, der kantig und sehnig ist, aber weit weniger nachgiebig als alle, die eigentlich stärker sein müssten als er. Er sieht jemanden, der ihm bekannt vorkommt, und schießt ihm in die Lenden. Er hebt das wimmernde Bündel Schmerzen auf. Wen habe ich für euch aus dem Weg geräumt, fragt er, was haben diese Männer getan, weswegen haben sie den Tod verdient? Der junge Mann ist der Ohnmacht nahe. Ich weiß es nicht ich weiß es nicht verdammt. Wer seid ihr? Wieso musste ich das machen? Der Mann kann keine Worte mehr formen. Er lässt ihn fallen und schießt ihm ins Gesicht. Da lassen die mich nun schon so scheißlange die Drecksarbeit machen und wollen nicht mal ein Stück vom Kuchen abgeben. Beschissene Egoisten. Ich will auch mal was wissen, ich will auch irgendetwas sein und nicht nur laufen schießen erledigen. Mülltonnen brennen. Ich bin das Chaos. Da steht er, ich sehe ihn im Profil, den Dreckskerl, der mich erpresst hat. Er ist allein. Er sieht mich nicht. Er steckt sich die Pistole in den Gürtel und drückt den Mann im beigen Anzug gegen eine Mauer. Sag mir, wer die Männer waren, die ich umgebracht habe. Sag mir, wer ich bin. Sag mir, dass ich bin. Der Mann lacht, soweit die Hände an seiner Kehle es zulassen. Mein Freund, mit solchen Fragen geht man ins Pfarrhaus, aber doch nicht ausgerechnet zu mir. Ein Messer bohrt sich in seinen Bauch, sein Sakko durchwirkt von Blut. Sag es mir. Noch hast du Zeit. Der Mann sagt nichts. Der grinst und spuckt nur. Er kniet sich auf den zuckenden Körper und schlägt mit dem Messer Löcher in die Brust. Er lässt eine Hand in den offengelegten Körper eintauchen und tastet nach dem noch pochenden Herzen. Jedes Leben hinter mir gegen mein eigenes Verschwinden. Ich baue mich selbst zusammen aus abgelegten Körperteilen. This is my only regret. That I ever was born.

    Munly and the Lee Lewis Harlots – River Forktine Tippecanoe
    Seinen letzten Auftrag wollte er sich selbst geben.

    Aus einer Beziehung zu einer Prostituierten war ein Sohn hervorgegangen, der nach ihrem Tod bei ihm leben sollte und seitdem nie das Haus verlassen hat. Keiner seiner Auftraggeber wusste von ihm. Man konnte ihn mit seinem Sohn nicht erpressen. Die Medikamente kamen per Post, er bestellte sie in kleinen Packungen, damit sie in den Briefkasten passten und um sie nicht bei den Nachbarn abholen zu müssen. In der Wiege, die sie ihm zu seiner Geburt gekauft haben, lag sein Sohn auch jetzt, er war nicht nennenswert gewachsen und würde es auch nicht. In den letzten Jahren verbot sie Medikation und Arztbesuche – sie hätte zu Gott gefunden, schnaubte er. Dann, als deine Mutter wirklich zu „Gott“ gefunden hat, musste ich die Hilfe für dich nicht mehr verheimlichen, zwar vor den anderen, aber zumindest nicht mehr vor ihr. Ärzte und Medikamente pfuschen an der heiligen Kreatur Gottes herum. Man darf nicht das Blut eines anderen in seinem Körper tragen. Was ein Scheiß. Er wippte ihn in den Schlaf, während Krächzen und Speichel aus seinem immer offenen Mund drangen. Jedes Mal erzählte er ihm dieselbe Gutenachtgeschichte. Dass er gerne mit ihm zusammen die Stadt hinter sich gelassen und auf ein Hausboot irgendwo ganz weit weg, bei einem endlosen See, nahe einer Lichtung in einem ansonsten dichten, riesigen Wald, gezogen wäre. Dort hätte er Schildkröten gefangen und dann gekocht, während sein Sohn um das Hausboot herumgeschwommen wäre. Grillen hätten gezirpt, Vögel gezwitschert, riesige, fette Kröten gequakt. Er hätte ihm einen waschechten Bären gezeigt. Aber das ginge ja alles nicht. Weil seine Mutter eine verdammte Hure wäre, bei der es bis in die letzten Jahre immer nur um Schwänze und Drogen und Geld und aufgewärmte Suppe gegangen wäre, die ihren Schoß jahrelang vergiftet und, als es mal wieder soweit war, nicht einmal den Anstand gehabt hätte, sich einen Tritt in den Bauch geben zu lassen und die Treppe herunterzustürzen. Und dann findet deine Mutter zu ihrem Gott, nur um uns allein zu lassen, und stirbt mit verfärbten Venen. Manchmal wandte sein Sohn ihm seine blinden, wässrigen Augen zu, öffnete den Mund ein Stück weiter, und was herauskam, klang fast nach seiner Stimme. Dann strich er ihm immer über den kahlen Kopf, lächelte wissend. Er dachte, dass er verstanden wurde, dass sein Sohn ihm zustimmte. Er dachte an das Hausboot.

    In den letzten Wochen, wenn er versuchte, ihm abgekochtes Wasser einzuflößen (er glaubte noch daran, und irgendwann würden sie zusammen Schildkrötensuppe essen), zuckte sein Sohn immer zusammen, warf an manchen Tagen seinen Kopf hin und her. Speichel trocknete rechts und links neben ihm auf dem Kissen. Er wurde wütend. Ging im Zimmer herum, fasste sich an den Kopf, schaute immer wieder zu seinem Sohn herüber. Er nahm seine Dienstwaffe aus seiner Jacke und richtete sie auf ihn. Wenn du nicht stillhältst, dann feuere ich das Ding ab, und das tut dann ganz schrecklich weh, und dann bist du tot. Tot tot mausetot. Kein Hausboot. Keine Bären. Verstanden? Sein Lächeln verzerrte sich zu einem Zähnefletschen, das Zähnefletschen zu einer traurigen Grimasse. Er schluchzte. Wischte sich mit dem Arm übers Gesicht. Tot tot tot. Kein Hausboot. Keine Bären. Bitte, du musst das trinken. Ich könnte es dir einflößen, aber du musst das trinken. Verlass mich nicht, bitte. Er legte die Waffe auf seinen Stuhl neben der Wiege und kniete sich hin. Sein Sohn tastete nach dem Lauf der Pistole. Er nahm den großen Kopf, mit schimmernden Adern und Haut so fein und transparent wie Krepppapier, fasste mit seinen Händen an die knochigen, faltigen Wangen. Tot tot mausetot, keuchte sein Sohn. Keine Bären. Er umfasste den Lauf der Pistole. Vorsichtig löste er die kleinen Finger von der Waffe und brachte sie weg, verstaute sie auf einem Schrank, wo sie ihm nicht unmittelbar zugänglich sein würde. Setzte sich hin. Und legte den Kopf in die Hände. Einige Minuten hörte er dem Husten und Röcheln noch zu, sah auf die alten Schläuche, die zur Wiege führten. Dann zog er schnell das Kissen unter dem Kopf seines Sohnes hervor, sodass sein Kopf auf die Matratze fiel, und drücke es ihm ins Gesicht. Er stützte sich darauf mit seinem ganzen Körpergewicht, verzerrte das Gesicht, weinte. Allmählich entspannten seine Muskeln sich wieder. Er ließ sich rücklings fallen und schlug mit dem Kopf auf dem Betonboden auf.

    Three Mile Pilot – X..Miner
    Seinen letzten Auftrag gab er sich nicht selbst.

    Ein Foto in seinem Briefkasten. Name, Uhrzeit, Adresse auf der Rückseite. Er zerknüllte es, steckte es sich in die Tasche. Ging zurück in die Wohnung. Stellte sich rauchend ans Fenster. Versuchte, nicht daran zu denken. Schließlich packte er die Waffe ein und machte sich auf. Sein Sohn brauchte einen Sarg.

    Das Knarren der Tür sägte an seinem Gehör. Wieso müsste es nur so laut sein, wieso müsste er sich nur so bemerkbar machen. Damals, als er zum ersten Mal die Maschinenhalle betreten hatte, hatte er das Knarren noch genossen, seine Musikbegleitung beim Eintreten in die Manege. Nun hatte er seine Zuschauer nicht mehr in der Hand, sie zielten mit Maschinengewehren auf den schwankenden Seiltänzer.

    Er stand in der Mitte des Vorraumes. Hörte das Rasseln von schweren Ketten. Und schoss.

    Sofort kamen Schüsse zurück. Er war konsterniert, seine Fußsohlen waren von unten angeschmolzen worden und klebten nun am Beton. Es gab keine Zwischenräume mehr, keine Lücken aus Stille in der grellen, dichten Gewehrsalve, und er dachte, jetzt musst du sterben, die Zeit steht still und die Welt wird vor deinen Augen ausgelöscht, du bist tot, tot, tot –

    Das Erste, was er fühlte, war Wärme, feuchte, warme Flecken an seinem rechten Arm und seinem linken Hosenbein. Er machte die Augen wieder auf. Tastete sich vorsichtig ab. Nur Streifschüsse. Nach einigen Schüssen – einigen, einigen, wie viele habe ich denn überhaupt noch – kniete er hinter einem blechernen Container. Er robbte zu einer sperrangelweit offenen Tür, kroch in den Raum hinein und sah darin zunächst nichts als die leuchtende Rettung – eine Treppe. Auf leisen Sohlen – so leise sie unter schlecht verschraubtem Stahl sein konnten – ging er die gewundenen Stufen hinauf, der Blick immer nach oben, in die Zwischenräume der Gitterböden mit den großen, unregelmäßigen Löchern gerichtet, aus denen die einzelnen Stockwerke bestanden. Er schaute auf Hosenbeine, große Schuhsohlen. Er zielte. Drückte ab. Ein Klacken. Nichts weiter. Schweiß rann herunter an seinen hohlen Wangen. Ich wusste es ich wusste es ich wusste es. Er versuchte, ruhig durchzuatmen, die Schleife der Bestätigung für das eigene Versagen zu durchschneiden, ich wusste es ich wusste es ich wusste es, doch bevor er sich sammeln konnte, mitten im Atemzug, fräste sich ein gellender Schmerz in seinen Bauch und er stürzte auf die klapprigen Stahlgitter, ließ sich auf die Seite rollen, bis er am Geländer angelangt war und fünf Meter unter sich den Boden sah. Ein Sturz aus dieser Höhe würde einen nicht umbringen. Nur ein paar zusätzliche Knochen brechen. Es wurde still. Gespenstisch. Sein Atmen kam ihm zu laut vor. Einige Minuten blieb er bewegungslos liegen, verklumptes Blut rann ihm aus dem Mundwinkel. Schließlich holte er sein Taschenmesser heraus. Stocherte im Loch herum, weitete es ein bisschen, bis die Kugel von alleine herausfiel. So tief war die Wunde gar nicht. Er hatte nicht geschrien – wozu schreien, wo man nicht gehört wurde? Er lag immer noch auf der Seite, in genau der gleichen Position. Auf dem Gitterboden über ihm war niemand mehr.

    Neben einem kleinen Betonquader mit Tür und Fenster, vermutlich früher für die Eintrittskontrolle, sah er ihn rauchen. In seinen Taschen tastete er nach einer geeigneten Waffe, fand aber nichts als Müll, die Pistole mit aufgebrauchter Munition und sein blutverschmiertes, klebriges Taschenmesser. Außerdem eine Zigarettenpackung mit zwei Zigaretten sowie ein Feuerzeug. Das Feuerzeug. Ihm blieb nichts anderes übrig. Das Messer war eine Nahkampfwaffe, weil er in sicherer Entfernung bleiben musste, konnte er mit ihm nichts ausrichten. Mit dem Feuerzeug könnte er ihn verfehlen. Es könnte ihn verraten. Aber es war seine einzige Chance. Also warf er es, hoffte, dass der Gegenwind die kleine Flamme nicht ausblasen würde. Und tatsächlich: Es erwischte ihn an der Schulter, das Haar und das Gesicht seines letzten Auftrags, der ihn seinerseits zu einem Auftrag gemacht hatte, fingen Feuer. Da verließ er sein Versteck, humpelte, so schnell er konnte, auf den Brennenden zu. Mit brandblasiger Kopfhaut denkt keiner mehr an die Waffen in seinen Gürteltaschen. Er riss die Tür des grauen Quaders auf, stieß den brennenden Mann hinein, lehnte sich dagegen. Faustschläge aus dem Inneren des Quaders ließen die Tür vibrieren, er sank zusammen und blieb bis zum Morgengrauen dort sitzen, um dann durch den Wald zu streifen und den nächsten Bus nach Hause zu nehmen. This is the torture king calling it quits.

    Es war einmal ein arm Kind: Im Fahrstuhlschacht
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    Cranes – Starblood
    Was war das? Hör nochmal genauer hin. Ein langgezogenes, sägendes Geräusch, wie rostige Türen, wie Sand im Getriebe. Du suchst nach den Augen deines Bruders, in der früh angebrochenen nordischen Nacht kannst du sie nicht finden. Wahrscheinlich sind sie ängstlich. Wahrscheinlich sind sie ernst. Er weiß, was du denkst, und schüttelt den Kopf. Es ist alles okay. Es geht vorbei. Es geht vor – ein kurzes, helles Krachen, und dann noch eins. Du willst schreien, du willst weglaufen, du willst jetzt zu Hause in deinem Zimmer sein und dass dieser schreckliche Moment vorbei ist, aber dein Bruder greift nach deiner Hand und scheint sich den Zeigefinger an die gespitzten Lippen zu halten. Doch er denkt das gleiche wie du. Langsam steht er auf, du klemmst mich unter deinen Arm, wartest, dass irgendetwas passiert, das euch den Startschuss geben könnte. Die Sekunden dauern so lange, es passiert nichts, du fasst dir mit der Hand an die Brust, vielleicht habt ihr es euch nur eingebildet – da, wieder, das Krachen. Lauf, zischt dein Bruder dir ins Ohr, und du rennst sofort los, als hättest du dein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet. Was für einen Lärm die Metalltreppe doch macht. Das würde die ganze Nachbarschaft aufscheuchen, wenn es sie hier gäbe. Er lässt deine Hand los. Vor dir siehst du einen dunklen Schattenriss durch die Hallen laufen, immer wieder stoppend, um sich umzusehen, immer wieder ausschlagend in eine andere Richtung. Ihr hört Schritte. Schwere, hallende Schritte. In der Wand ist ein eingeschlagenes Fenster, ein Loch, das etwas weniger schwarz ist als der Rest der Welt in diesem Moment und aus dem euch der Vollmond entgegen leuchtet. Vor dem Fenster seht ihr merkwürdige Formen, sie stapeln sich und glänzen schwach im Mondlicht. Rauf da, flüstert dein Bruder und zeigt auf den Berg dieser merkwürdigen Formen, die euch zum Fenster führen. Er klettert voraus, Einzelteile fallen blechern lärmend herunter. Du fürchtest dich. Was ist, wenn dieser Berg unter dir in sich zusammenbricht. Aber du kletterst mit hinauf, versuchst, mich weiterhin im Arm zu behalten. Es gelingt dir nicht, ich kullere auf den Boden. Unter dir löst sich eine Röhre. Du siehst noch, wie ein Fuß deines Bruders im Fenster zur Nacht verschwindet, dann fällst du. Du hebst mich auf, klopfst den Staub ab. Dann ist er wieder da, der Krach. Ganz undeutlich kannst du einen großen, dünnen Mann am anderen Ende des Raumes sehen, er hält etwas in den Händen. Du versuchst nicht, wieder hochzuklettern, das würde dem Mann zu viel Zeit geben. Du rennst in die andere Richtung. Du rennst, solange du eine offene Tür findest, aber die Räume werden immer leerer, hier kann man sich nicht gut verstecken. Er kommt immer näher. Schließlich findest du einen sehr kleinen Raum, in dem es keine Tür zu einem weiteren Raum gibt, aber aus seiner Mitte scheint eine Dunkelheit, die noch viel tiefer und durchdringender ist als die, der du zu entkommen versuchst. Vielleicht ist es ein Portal, denkst du, vielleicht ist es ein Wurmloch. So wie in den Büchern, die dir dein Bruder zu Weihnachten geschenkt hat. Einen Schritt vor dieser tiefsten Schwärze bleibst du stehen, streckst den Arm aus, greifst mit deiner Hand in die leere Luft – da spürst du, dass er im Raum steht, die beständig lauter werdenden Schritte hinter dir haben aufgehört, du weiß nicht, wie nahe er dir ist – und springst.

    Lycia – Everything Is Cold
    Du wachst auf. Es fällt dir schwer, deine Augenwinkel sind verkrustet, aber du bist wach. Der Stern eines tiefen, traumlosen Schlafes hat dich aus seiner Umlaufbahn geworfen, nun bist du wieder da, fühlst dich, deinen Körper, den Boden unter dir. Du bist am Leben. War vielleicht alles nur ein Traum? Du hörst auf, dir die Augen zu reiben, und malst es dir aus: immer noch liegst du in dem Treppenvorraum neben deinem Bruder. Der Boden ist hart und es ist kalt, aus abgebrochenen Ästen ein Lagerfeuer zu machen, ist euch nicht gelungen, da liegen sie. Ihr habt es geschafft, eine Nacht in dem verlassenen Fabrikgebäude, beide hattet ihr Angst, aber die habt ihr für euch behalten. Jetzt müsst ihr schnell nach Hause, vielleicht sind eure Eltern ja noch nicht wach. Schmerzhaft bricht die Verkrustung an deinen Augen auf, du kratzt sie auf, nun bleibt dir nichts übrig, als zu sehen: du kannst nichts erkennen. Der Raureif knirscht auf deiner Jacke, als du versuchst, deine Hand auszustrecken, Schmerzen durchfahren deinen Arm. Unerwartet schnell stoßen deine Fingerspitzen auf Widerstand. Du streichst über raues, poröses Gestein, über Flecken aus Eis. Du flüsterst den Namen deines Bruders, sagst ihn dann lauter, fragend. Niemand antwortet dir. Wieder versuchst du, deine Hand auszustrecken, beißt die Zähne zusammen, greifst hinter dich. Ich liege auf einer vereisten Pfütze. Du packst mich am Ohr, holst mich zu dir und drückst mich an deinen kleinen, kalten Körper. Bei dem Sturz musst du dir mehrere Knochenbrüche zugezogen haben. Du hast Kopfschmerzen, und deine Nase ist verstopft. Zaghaft versuchst du, den Kopf zu wenden, um dich umzuschauen; alles dunkel, nur ganz weit oben, in mehreren Metern Höhe, siehst du ein fahles Licht.

    The Gault – County Road, Six Miles In
    Die Tage vergehen so langsam. Du merkst es nicht, aber sie vergehen. Sie vergehen ohne dich. Vergehen sie auch für deinen Bruder? Das Letzte, was du von ihm gesehen hast, war der Fuß, der in der Nacht verschwindet. Wo ist er jetzt? Hat er es geschafft? Holt er Hilfe? Oder liegt er still und kalt im Schnee? Vielleicht ist der dünne Mann noch da, vielleicht sitzt er oben und wartet. Dann bist du hier in Sicherheit. Selbst wenn dein Bruder niemanden geholt hat oder niemanden holen konnte, Hilfe kommt bestimmt. Deine Eltern machen sich Sorgen und werden lange nicht sauer sein, sobald sie dich hier finden, sie werden weinend ihre Arme um dich schließen und zu Hause gibt es Kakao und Kekse. Der dünne Mann kommt ins Gefängnis. Bestimmt kommen bald die Suchtrupps der Polizei in die Maschinenhalle, und wenn du weit entfernte Stimmen und Schritte hörst, musst du schreien. Richte dich auf, schaue nach oben, zu dem rauchigen Grau inmitten deiner Schwärze und schreie. HIIIILFE, ganz laut HIIIILFE, HIER UNTEN BIN ICH. Dein Hals tut dir weh. Deine Stimme kommt nicht durch. Noch einmal, HIIILFE! Hilfe, Hilfe, Hilfe… Dir wird schwindelig, deine Stimme wird immer kleiner. Du legst dich wieder hin. In den ersten Tagen hattest du noch schrecklichen Hunger, die Leere in deinem Magen hat sich aufgebläht und drohte, all deine anderen Organe von innen zu zerdrücken. Nun ist da nichts mehr, nur die beständige Flauheit und manchmal die blubbernde Magensäure. Du brichst dir etwas Eis von der Wand und steckst es dir in den Mund. Von der Kälte tun dir die Zähne weh. Dein Gaumen fühlt sich taub an. Du hustest, verkrampfst, fühlst, wie sich die Krankheit in deinen Hals und in deinen Brustkorb krallt. Ganz tief, unerreichbar tief unten in deiner Brust rasselt es. Du hast einen neuen Geschmack im Mund, etwas Salziges, das zugleich schmeckt wie Stahl – Blut. Du spuckst es aus. Ein heftiges Zittern fährt durch deinen Körper.

    And Also The Trees – Anchor Yard
    Miranda Sex Garden – A Fairytale About Slavery
    In Amerika kommen die Bilder verschollener Kinder auf Milchpackungen, hat dein Bruder dir einmal erzählt, und: zwischen dem Boden des Fahrstuhls, wenn er im untersten Stockwerk zum Stehen kommt, und dem Grund des Fahrstuhlschachts gibt es einen Zwischenraum, und der ist so groß, dass da ein ganzer Mensch hineinpasst. Vielleicht sogar mehrere. Das sind dann die Schachtmenschen, die leben in ihrer eigenen Welt mit eigenen Regeln. Eine Schachtstunde ist, wenn der Fahrstuhl einmal ganz unten angekommen ist, und wenn er da lange genug bleibt, dann schlafen die Schachtmenschen. Wenn der Fahrstuhl oben ist, dann strecken sie sich aus und jagen Tiere und Vögel, die es nur in den Schächten gibt, nicht bei uns. Viele verschollene Kinder aus Amerika sind nun Schachtmenschen und leben glücklich und zufrieden. Schließe die Augen ganz fest, bis es schmerzt und zu flimmern beginnt, dann kannst du es dir vorstellen: wie dein Bruder dir Geschichten von den Schachtmenschen erzählt und von deinem Bett aufsteht, während du dir die Bettdecke bis unters Kinn ziehst. Er wünscht dir eine gute Nacht, schaltet das Licht aus und schließt die Tür zu deinem Zimmer. Sobald er weg ist, ziehst du mich heraus aus dem Berg von Kuscheltieren, legst mich neben dich aufs Kissen, sagst „Gute Nacht, Stella“ und gibst mir einen Kuss auf die Nase. Halte die Augen geschlossen, es wird wahr, wenn du es dir nur deutlich genug vorstellst. Jeden Abend erzählt er dir neue Geschichten, bis ihr euch beide zu alt fühlt. Er geht auf eine weiterführende Schule, du, ein Jahr später, auf die gleiche. Er stellt sich schützend vor dich, wenn die Jungs aus deiner Klasse dir blöd kommen. Sobald ihr groß und mit der Schule fertig seid, verlasst ihr euer Dorf, er zieht in die Hauptstadt, du in ein wärmeres Land. Verkrümme dich weiter, um nicht an Körperwärme zu verlieren, hauche deine tauben Hände warm an und denk ganz fest daran: du bist eine schöne junge Frau, hast langes, lockiges Haar und trägst ein Kleid mit Blumenmuster. Der Wind lässt dir den Rock um die gebräunten Beine flattern, während du im hohen Gras stehst und die Sonnenstrahlen dein Gesicht kitzeln, du schließt die Augen, breitest die Arme aus und bist frei, frei, frei…und dann zerspringt das Bild wieder vor deinen Augen, Wellen aus Hitze und Kälte rauschen durch deinen Körper, du reißt die Augen auf und siehst wieder nichts, nichts, nur Schwarz. Fast hättest du mich hier zurückgelassen, fast wärst du entkommen, fast hättest du es geschafft. Irgendwann einmal, in hundert Jahren vielleicht, ist es auf der Welt wärmer und heller geworden. Dann ist das Eis geschmolzen und das Schmelzwasser in die Erde gesickert. Vielleicht findet man dich dann hier und es sprießen kleine Krokusse aus deiner Jacke. When did you realise that you’d never be free

    Part 3 folgt die Tage

    Niks Story:

    ‚So sadness is a place?‘, she asked. ‚It is, some people spend years there.‘, I told her.
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    Der Clown. Die Clownerie. Was ein interessantes Gebiet es doch ist. Seit Jahrhunderten scheinbar nur lebend, um uns zu belustigen. Schon die alten irischen Göttersagen erzählen von diesem eigenartigen Gefolge. “Und während sie sprachen, sahen sie einen Clown ihnen entgegenkommen, alte, zerissene Anziehsachen trug er, und schmutziges Wasser spritzte in seinen Schuhen…” Dann, im 16. Jahrhundert, kam im Theater die Figur des undurchsichtigen Harlekins auf. Ein Auge weinend, und doch am Lächeln. Ein wahres Bild des Clowns, welches, wie so manche Wahrheit, schnell schon mit viel Schminke übertüncht wurde. Der Clown ist ein Andersartiger, ein Spötter der Realität und der Gesellschaft. Gleich einem Stück verrottendem Fleisch hält er dem Zuschauer die Wahrheit vor die Nase – so überspitzt, dass dieser diese Wahrheit nicht zu erkennen vermag, und lauthals über seine eigene Abartigkeit lacht.
    Sein ganzes Leben ist der heutige Clown auf der Reise, tatsächlich noch das Abenteuer lebend, dass so vielen abhanden ging. Nicht wahr? So viele Menschen, denen man begegnet, und doch ohne Alltagstrott, ohne Verpflichtungen, die einen Zurückhalten. Das wahre Bild der Freiheit, so mag man glatt sagen!
    Und so werden wir – wer auch immer wir sein mag, oder ob es überhaupt existiert? – uns heute auf die Suche machen… auf die Suche nach einer Wahrheit über den Clown… auf eine Reise in das Innerste, Tiefste und Ehrlichste seiner Seele. Man mag gespannt sein, was sich uns dort alles zeigt – oder auch nicht?

    Als ich in den hintersten Teil des großen, aufgewölbten Zeltes trete, wird es dunkel um mich. Dunkel – nicht schwarz. Eher ein unberührtes Grau, durchdrungen von Flimmern, wie aufgewirbeltem Staub. Das mag aber auch am Kribbeln meiner Augen liegen, oder daran, dass ich mich an diese Dunkelheit schon so sehr gewöhnte, dass sie mich wie ein alter Bekannter empfing.
    Immer wieder wird dies unterbrochen – hereinstrahlende Lichtbögen welche die Augen erfüllen, wenn der Vorhang vom Wind der Vorbeireitenden aufgerissen wird, und mir Sand und Staub ins Gesicht peitscht.
    Immer wieder wird die gespannte Stille, welche sich in dem Kämmerchen niederlegt, unterbrochen, wenn ein Kunststück geglückt ist, und die gesichtslose Masse dort draußen begeistert, geradezu euphorisch aufkreischt, pfeift, johlt, applaudiert.
    Es zerfetzt mein Trommelfell, das Trampeln auf den Dielen unter ihren Füßen – welche sich gleich dem Firmament über mir aufspannten, durch ihre Ritzen Licht gleich Sternen herabsendend – lässt meinen Körper erbeben und feinen Staub auf mich herabrieseln, meine rot bemalte Nase einen leicht gräulichen Schimmer annehmen. Diese Prozedur erfolgt genau zwölf Mal. Das weiß ich, denn es passiert immer so. Jeden Tag, jede Vorstellung. Immer – genau zwölf Mal. Zwölf Mal. Zwölf Mal…
    Als der Applaus sich legt, erklingt eine laute Melodie. Noch ein alter Bekannter, welcher mich verführerisch anleitet, aus dem Dunkel zu treten. Ins Licht. Gestorben und neu geboren.
    Intro: Le Grand Guignol – Cirquvs L (1:49)

    Meine Show gleicht einem magischen Erlebnis. Sie ist von ganz eigener Art, abseits dessen, was die Zuschauer kennen. Eine knallbunte Auf- und Entführung, weg von Weltschmerz, Realität und Depression, eine Weltenflucht, gleich einem romantischen Gedicht, geschrieben von einem Einhorn aus Zuckerwatte. In dieser Welt, welche der Hölle gleicht, bin ich es, der sie die Blumen inmitten der Flammen erblicken lässt.
    Und darin liegt das wundervolle Paradoxon meiner Arbeit, denn das, was die Menschen wegführt – von ihrem alltäglichen Leben – ist doch nur eine überspitzte Version von ebendiesem. Dass, worüber sie lachen – das sind sie selbst. Und sie merken es nicht, in ihrer Ignoranz und Unbedarftheit merken sie es nicht. Stattdessen lachen sie einfach über ihre eigenen Makel und Abarten.
    Und all das, all diese fremden Welten, erschaffe ich nur mit der Macht des Humors. Der Möglichkeit, aus fatalen Ereignissen Banalitäten zu konstruieren, dass perfekte Mittel, die Realität zu biegen und beugen, bis sie so ist, wie ich sie mir machen möchte.
    Ich bin ihr Gott, und für die kurze Dauer meiner Aufführung sind sie meiner Willkür schutzlos ausgeliefert.

    Mit lautem Quietschen und ziehenden Geräuschen öffnet sich der Vorhang, der samten rote, vergilbte Stoff flattert zur Seite, und lässt gleißendes Licht die dunkle Hinterkammer fluten. Das blendende Weiss lässt mich für Sekunden erblinden, als würden meine Netzhäute verbrennen, zurück bleiben lilagelbe Brandflecken und das Flimmern von Asche. Gleich dem Werk eines Töpfers wird aus der verschwommenen Masse, welche ich nun langsam zu erkennen vermag, eine Ansammlung bunter Punkte und Schemen, Handstreich für Handstreich für Handstreich, ganz langsam ausdruckslose Gesichter, welche mich begeistert anstarren. Alle verschieden, und doch alle so belanglos, grau, starr und gleich. Immer das Selbe. Jeden Tag.
    Dem tosenden Applaus, der wie eine zähe Masse die Luft verdickt, entgegen trete ich aus dem Schatten hervor, in die braungelbliche Manège.
    Nach dem ersten Tritt bleibe ich stehen, und federnd beugt sich die Spitze meiner langen, ausgelatschten Clownsstiefel dem Boden entgegen. Ich hebe die Arme. Die Menge johlt. Die Show beginnt.
    01. 6:33 & Arno Strobl – Order of the Red Nose (9:58)
    02. The Vernian Process – Something wicked (4:02)
    03. Carnival in Coal – Don’t be happy, worry (5:26)
    04. Sigh – L’Art de Mourir (4:54)
    05. Le Grand Guignol – Mens insana in corpore insano (7:24)

    Vor meinen Augen wird es düster, nur kurz, aber dafür immer wieder. Erschöpft lasse ich mich in das schmale Bett meines Wagons fallen. Die Matratze, gefüllt mit Stroh, sticht mir in den Rücken und lässt mich unter der Wucht des Aufpralles gegen das harte Holz prallen, welches sich durchbeugt.
    So erschöpft wie ich war schaffte ich es nicht einmal mehr, mich abzuschminken, lediglich in den kratzigen Leinenschlafanzug konnte ich mich hereinquälen.
    Mein Atem geht schnell und asynchron, mein Herz rast, schießt Blut wie Säure durch meinen zitternden Körper als ich die Augen schließe. Langsam, ganz langsam, beruhige ich mich.
    Erneut läuft der eben absolvierte Auftritt vor meinen Augen ab, so wie es jeden Tag danach ist. Wie jeden Tag ein paar Unaufmerksamkeiten und Konzentrationsschwächen, wie jeden Tag ein paar Patzer. Wie jeden Tag merkte niemand aus der hohlen Masse etwas, zu beschäftigt damit, ihrer Belustigung Ausdruck zu verleihen. Leichter Ekel steigt in mir auf. Als der Sanguiniker in mir sich zurück in sein kaltes Grab begibt, kehrt die Leere zurück. Ich lasse mich in sie hineinfallen. Was bin ich auch schon, außer Leere.

    Für die Zuschauer bin ich ein Mittel zu Belustigung, meiner Menschlichkeit beraubt, vom Mittel zum Zweck zum Mittel allein degradiert. Für die anderen des Zirkus bin ich der Irre, der eigentlich gar kein Talent hat. Ich bin notwendig, denn das Publikum möchte mich sehen, doch außerhalb der Vorstellung meiden sie mich. Jeder Tag kommt einem weiteren Tod gleich. Und doch ist jeder Tag besser als die Vergangenheit, vor der ich weglaufen möchte. Ich habe meine Einsamkeit akzeptiert. Ich bin mein einziger Freund. Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.
    Meine Gedanken kreisen, ziehen sich, beugen sich, dehnen sich, kringeln sich, zerreissen sich, verbinden sich, verziehen sich, entspannen sich, hüpfen und springen und lachen und weinen.
    Mein alter Freund, die triumphale Empfangsmusik, verzerrt sich mit ihnen. Sein Gesicht wird lang, seine Arme länger, seine Augen werden zu schwarzen Löchern. Ich gleite in einen Dämmerzustand, einen Zustand irgendwo zwischen Vigilanz und Schlaf, zwischen Wahn und Sinn. Bunte Wesen erfüllen das Vakuum meiner Gedankenwelt, suchen mich heim und tanzen wirre Muster, ziehen farbige Schlieren hinter sich her. Meine eigene Vorführung sucht mich heim, auf eine beunruhigende, bösartige Weise. Eine Überspitzung einer Überspitzung, personifizierte Schizophrenie. Wabbernde Schatten scheuchen mich durch die Tiefen meiner Synapsen.
    Intermezzo: Fântomas – 04_19_05 Tuesday (0:40)
    06. Koenjihyakkei – Rattims Friezz (7:05)

    Immer tiefer zieht Morpheus mich herab in sein Schattenreich.
    Die vielen Gedanken über meine Vergangenheit werfen mich dorthin zurück, in eine Zeit, vor der ich so vehement, so verzweifelt fliehen möchte. Nicht alles war schlecht, damals. Im Gegenteil. Und so spüre ich, wie sich die Haare auf Armen und Nacken aufrichten, als ich die Kälte des Winters spüre. Die undichten Dielen des Wagons verschwimmen in den Gedanken zu den dürren Holzbrettern der Hütte meines Großvaters.
    Er lebte tief im Wald, fernab der Stadt. Er mochte es dort. Er sagte, er mag die Stadt nicht. Sie verdirbt den Menschen. Er ging in den Wald, denn er wollte bewusst leben, die essentiellen Dinge des Lebens auskosten, um zu schauen, ob er nicht das lernen konnte, was es ihn lehrte, nicht, wenn er starb, herausfinden, dass er nie gelebt hatte. So sagte er es immer.
    Als ich ihn als Kind immer besuchte, war er schon ein alter Mann. Ungewöhnlich alt für einen Menschen. Gleich Blumen reckten sich die lilanen Venen der Sonne entgegen, stachen gleich Gebirgen aus seiner ledrigen, pergamentartigen und aschfahlen Haut. Seine Wangen, ja sein ganzes Gesicht wirkte eingefallen, wie eine Maske dessen, was er einst war. Aus seiner alten Pfeife blies er bläulich grauen Rauch der Decke entgegen, sein Geruch vermischte sich mit dem des knisternden und prasselnden Kaminfeuers. Wehleidig klagte der Wind und pfiff durch die Ritzen der Hütte. All diese Gerüche zogen mich in diese Zeit zurück.
    Seine verrauchte, gebrechliche Stimme erfüllte den Rauch mit einer Fülle, welche kaum zu erwarten war. Er erzählte von einem Dorf, welches er in seiner Jugend besuchte, und von der Legende, welche über dieses Dorf erzählt wurde. In meinem Traum wurde die Erinnerung an die Worte lebendig, und so sah ich mich als fremder Beobachter an diesem Ort, wie ein Geist.
    Kurzfilm: The Blackwater Gospel (9:32)

    Immer tiefer versinke ich in das klebrige, tödliche Netz meiner Erinnerungen. Sie quälen mich. Sie foltern mich. Die Erinnerungen an meine damalige Heimat, an all die Menschen dort, den Rückhalt, den er empfangen hatte. Das Gefühl der Zugehörigkeit. Das Gefühl, sich immer an jemanden wenden zu können, die Geborgenheit. All das, was ich schon lange nicht mehr empfangen hatte. Schmerz erfüllt mich, bis in den letzten Winkel meines Körpers.

    Mein Körper schüttelt sich, wie die Zuckungen eines Toten durch letzte Nervenimpulse. Der Schmerz zerschneidet meine Sehnen und Muskeln. Meine Knochen zersplittern unter dem Druck des Leidens.
    Alle negativen Emotionen, welche in einer erdrückenden Flut die Luft aus meinen Lungen pressen, verdichten sich zu einer dunklen Flüssigkeit, welche meinen Körper durchspült und ihn begräbt wie die Wellen des Ozeans einen Schiffsbrüchigen. Selbsthass und Zorn brechen aus mir heraus, spalten mich, und eine intensive, erschütternde und verstörende Schwärze ergreift Besitz von mir. Kaputt, einsam und allein ist es im Inneren dieser dunklen Macht, ihr vollkommen ausgesetzt. Ein schwarzes Loch aus Hass. Allumfassend und scheinbar endlos. Mein Körper gibt sich als zertrümmerte Masse der Dunkelheit hin.
    07. Terra Tenebrosa – The Teranbos Prayer (6:06)
    08. Nortt – Havet Hinsides Havet (11:00)
    09. Lustmord – Part VI (14:42)
    10. CRIM3S – lost (2:28)

    Nackt und schutzlos liege ich auf dem Boden. Es ist kalt. Alles ist in hellem Grau eingefärbt. Es ist die Ruhe nach dem Sturm. Dieser Augenblick, wenn alles zerstört ist. Wenn er Menschen aus dem Leben gerissen hat, die ganze Welt, in welcher sie leben, untergraben und zerstört hat. Wenn die Trümmer zur Ruhe gekommen sind. Wenn das Schreien der Menschen zu Wimmern und Flehen verkommen ist. Wenn sie unter der Last ihrer Träume zerbrechen. Verunsichert. Nackt. Schutzlos. Dem ausgeliefert, was nun folgen wird. Der Wind umschmeichelt sie ruhig, legt sich sanft um sie, die Menschen, die er zuvor in den Abgrund gerissen hat.
    Durch das Dröhnen und die lauten Störgeräusche, welche die Ohren durchtränken, klingen einzelne Töne. Immer deutlicher schwebt die Kulisse eines Klaviers durch den Schleier. Ein Lied ertönt, welches ich von früher noch all zu gut kenne.
    Damals hatte meine Verlobte es auf dem Klavier vorgespielt, um mich nach einem anstrengenden Arbeitstag zu beruhigen. Damals. Bevor ich alles zerstörte.
    11. Korouva – Tide (3:45)

    Damals. Damals war mein Leben leicht und unbeschwert, und vor allem war es glücklich.
    Mit meiner Familie lebte ich in einem kleineren Städtchen an der Küste, im höheren Norden. Dort blieben wir immer, und wir hatten auch kein Verlangen, woanders hinzugehen. Nur einmal waren wir südlich gereist, in die große Stadt der Träume. Dort, wo mein Großvater damals ankam, um ein neues Leben zu beginnen.
    Schon in frühester Kindzeit lernte ich meine große Liebe kennen. In der Schule wurden wir dann zum Paar, und später verlobten wir uns dann auch schnell. Da ihre Familie früh verstarb, nahmen wir sie bei uns zuhause auf.
    Nach der Ausbildung entschied ich mich dazu, auch zu den Einnahmen der Familie beizutragen, und so nahm ich Arbeit beim Apotheker der Stadt an, ein freundlicher, lebenslustiger älterer Herr. Man könnte meinen, mein Leben sei idyllisch gewesen. Doch ich war damals so naiv, und erkannte mein Glück nicht, verleugnete es, vernichtete es.
    Jeden Tag versorgte ich die Seemänner und Matrosen. Die Stadt war ein florierendes Zentrum des Walfangs seiner Zeit, und so zog er mutige Männer an wie Kot die Fliegen. Sie erzählten von den Abenteuern auf der See, von den unzähligen Gefahren, welche sie Tag für Tag meisterten. Und von den unzähligen Frauen – in jeder Stadt hatten sie eine, so sagten sie.
    Auch ich sehnte mich nach so einem Leben. Fühlte mich gefangen in der kleinen Stadt am Meer. Ich wurde die Stadt leid, ich wurde die Menschen dort Leid. Wurde missmutig, und begann, die, welche mich von vollem Herzen liebten gnadenlos zu hintergehen. Ich begann zu trinken. Wenn ich dann trank, kam er erst spät in der Nacht nachhause, pöbelte meine Verlobte an, schlug sie sogar. Durch meine Unzuverlässigkeit verlor er meine Arbeit. Dies verschwieg ich. Stattdessen stahl ich, von Fremden und meiner Familie.
    Im Vergnügungsviertel gab ich mich dem Opium und der Lust nach den Huren hin. Mein Menschenbild verschlechterte sich, ich fühlte mich sogar überlegen, und sah alle anderen als abartige Wesen, die meiner nicht würdig waren. Ich verlor meinen Schlaf, ich verlor meine Freunde, schließlich verlor ich meine Familie. Irgendwann kam der Moment, als sie mich rauswarfen. Immer folgte mir meine treue Verlobte, sie liebte mich zu sehr, mich gehen zu lassen, obwohl ich immer wieder Nägel in ihr Herz rammte, gleich dem Leichenbestatter in den Sarg. Und in diesen trieb ich sie. Eines Tages fragte sie, ob sie auch in den Himmel käme, wenn sie sich das Leben nehme. Ich lachte nur abfällig, und nahm einen tiefen Schluck Whiskey. Am nächsten Tag fand ein Wanderer sie im Wald. Ihr Brautkleid wehte im sanften Abendwind, als sie sich ruhig und friedlich drehte. Der Strick war hastig und unordentlich und hinterließ tiefe blaue Male an ihrem Hals. In den Tränen, welche ihr Gesicht benetzten, spiegelte sich die Abendsonne. Endlich, dass erste Mal seit langem, war sie frei.
    Der Verlust riss mich aus der Benommenheit. Mir wurde schlagartig klar, was ich ihnen allen angetan hatte. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, und die Reue zerbrach meine Seele in viele kleine Splitter.

    Weg von hier, dass war mein Ziel. Mein einziges. Fliehen vor meiner Vergangenheit. Schnell entdeckte ich in meiner Trauer die Realität hinter der Welt. Ich sah überall Menschen, aber keine Menschlichkeit. Ich hatte für nichts gestanden, und so dann alles verloren. In einer nahen Stadt nahm mich ein Wanderzirkus auf, ein Novum dieser Zeit. Meine Vergangenheit versteckte er hinter einer Maske falscher Frohnatur. Bald schon wurde ich so in die Kunst der Clownerie eingewiesen, und gab mich ihr voll hin. So gut konnte ich mich doch mit der Figur identifizieren.
    12. Envy – Chain wandering deeply (8:29)
    13. Arktika – Heartwrencher (9:53)
    14. Heaven in her arms – Butterfly in right Helicoid (10:27)
    15. Downfall of Gaia – Drowning by Wing Beats (8:09)
    16. Rituals – It was all very sudden (10:57)
    17. Nontinuum – Surrogate (4:50)

    Ich erwache schweißgebadet, ohne Erinnerung daran, was ich geträumt hatte. Mein Körper zittert stark. Tränen laufen meine Wangen herab, die Hände habe ich kräftig ins Laken gekrallt, meine Nägel sind gesplittert. Ich sehe, dass Stücke aus dem Rahmen meines Bettes herausgerissen sind, und sich tiefe Kratzspuren in das Holz gefressen hatten, Splitter drücken in mein Nagelbett und warmes Blut bildet Muster auf den Fingern. Geronnene Blüten werden von frischen Bächen verziert.

    Ich richte mich auf, die nackten Füße schlurfen über den kalten Boden. Ich weiß nicht, was ich tue.
    Langsam steige ich die Treppe herab. Unter meinen Füßen knirscht der Schnee, das Gras beugt sich mit leisem, widerstandslosen Knacken. Meine Schritte werden schneller und unkontrollierter. Ich weiß nicht, wohin ich laufe. Ich weiß auch nicht, ob ich das wissen möchte. Immer wieder falle ich, schürfe mir die Knie auf. Rotes Blut läuft die Beine herab, besprenkelt das unberührte Weiss.
    Mein Atem stockt, meine Muskeln brennen, Säure schießt durch meine Adern. Kalter Wind reibt über meine Haut wie Schmirgelpapier, winzige, klare Flocken benetzen meine Haut, werden zu kleinen Wassertropfen, welche zusammen mit Tränen mein Gesicht herablaufen, und die Schminke zu einer grässlichen Fratze verzerren. Weg von hier, dass ist mein Ziel. Einfach nur weg von hier.
    18. Falls of Rauros – Banished (10:45)

    Irgendwo in der Ferne breche ich zusammen. Zeit ist relativ. Für mich war sie nicht existent. Lief ich Sekunden? Minuten? Stunden? Tage? Langsam färben sich meine Gliedmaßen bläulich. Mein Kopf dröhnt.
    Kurzfilm: The Tale of three Brothers (3:10)

    Es gibt viele Theorien und Glauben darüber, was mit einem Menschen geschieht, wenn er stirbt. Manche sagen, man wird zu einem Geist, um ewig die Welt zu betrachten, ohne an ihr teilhaben zu können. Andere sagen, man kommt in ein fernes Reich. Manche sagen, man hört laute Engelschöre. Manchen sagen, man sehe ein Licht. Viele denken, bevor man stirbt laufen die wichtigsten Augenblicke des Lebens vor den Augen des Sterbenden ab. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, dass sich die Zeit dehne, und man sein ganzes Leben erneut erlebe. So dass man nie wüsste, ob man nun lebt, oder gerade stirbt.
    Das einzige, dass ich erlebte, war, dass ich alleine war. Ganz alleine. Selbst mein Schatten hatte mich verlassen. Ich fühlte nur ein durchdringendes Gefühl von Schuld. Und unendliche Stille.
    Die Tragödie meines Lebens war es, dass niemand je den Ausdruck von Verzweiflung auf meinem Gesicht gesehen hatte. In diesem Augenblick hätte ihn selbst ein Blinder nicht übersehen können.
    Es wäre gelogen zu sagen, ich fürchte mich nicht mehr. Ich hatte so viele Dinge bereut. Seit ich damals unzufrieden wurde, hatte ich so viele Dinge bereut. Nun bereute ich nur noch eines – dass ich je geboren wurde.
    Und doch, ich bemerkte noch etwas anderes. In diesem winzigen Moment lag eine Schönheit, welche die Trauer all der Jahre überdecken konnte. Dann wird es schwarz um mich.

    19. Matryoshka – Monotonous Purgatory (6:18)

    Er empfing den Tod als alten Freund. Unscheinbar lag er dort, zusammengekauert wie ein Fötus, auf dem weiten Feld. Schnee überdeckte seinen Kürper, und schließlich wurde er nur eine Mulde auf dem weiten, freien Feld. Der Mond zog auf seinen höchsten Punkt. Die Glocke eines Kirchturmes schlägt, weit, weit entfernt. Der Tag endet. Und so endet auch unsere Reise, an der Seite des Clowns.

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    Highlights von metal-hammer.de
    #6809809  | PERMALINK

    Nik

    Registriert seit: 24.04.2011

    Beiträge: 9,611

    Der palez-Sampler für Nik:

    I:
    1. The Soft Moon – Sewer Sickness
    2. The Angels of Light – New City in the Future
    3. Kiss It Goodbye – Sick Day
    4. Swans – Beautiful Child
    5. Jay Munly – River Forktine Tippecanoe
    6. Three Mile Pilot – X. Miner

    II:
    7. Cranes – Starblood
    8. Lycia – Everything Is Cold
    9. The Gault – County Road, Six Miles In
    10. And Also The Trees – Anchord Yard
    11. Miranda Sex Garden – A Fairytale About Slavery

    III:
    12. The 3rd and teh Mortal – Magma
    13. The Comsat Angels – Gone
    14. Messer – Romy
    15. Suicide – Frankie Teardrop
    16. Nico – Evening of Light

    Coda:
    zu I.: Leonard Cohen – Dress Rehearsal Rag
    zu II.: The Angelic Process – Dying In A-Minor
    zu III: Prezident – Zu Jim Inne Wanne

    Der Nik-Sampler für palez:

    Intro: Le Grand Guignol – Cirquvs L (1:49)
    01. 6:33 & Arno Strobl – Order of the Red Nose (9:58)
    02. The Vernian Process – Something wicked (4:02)
    03. Carnival in Coal – Don’t be happy, worry (5:26)
    04. Sigh – L’Art de Mourir (4:54)
    05. Le Grand Guignol – Mens insana in corpore insano (7:24)

    Intermezzo: Fântomas – 04_19_05 Tuesday (0:40)
    06. Koenjihyakkei – Rattims Friezz (7:05)

    Kurzfilm: The Blackwater Gospel (9:32)

    07. Terra Tenebrosa – The Teranbos Prayer (6:06)
    08. Nortt – Havet Hinsides Havet (11:00)
    09. Lustmord – Part VI (14:42)
    10. CRIM3S – lost (2:28)

    11. Korouva – Tide (3:45)

    12. Envy – Chain wandering deeply (8:29)
    13. Arktika – Heartwrencher (9:53)
    14. Heaven in her arms – Butterfly in right Helicoid (10:27)
    15. Downfall of Gaia – Drowning by Wing Beats (8:09)
    16. Rituals – It was all very sudden (10:57)
    17. Nontinuum – Surrogate (4:50)

    18. Falls of Rauros – Banished (10:45)

    Kurzfilm: The Tale of three Brothers (3:10)

    19. Matryoshka – Monotonous Purgatory (6:18)

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    #6809811  | PERMALINK

    Leo-suomi

    Registriert seit: 16.03.2010

    Beiträge: 1,934

    The Angels Of Ligt, Swans, Nico, Leonard Cohen, The Angelic Process, Terra Tenebrosa, Lustmord, Arktika, Downfall of Gaia u. Falls Of Raurors find‘ ich gut. Den Rest kenne oder mag ich nicht. Ist definitiv recht interessant und reinhören werde ich in den ein oder anderen Song ebenfalls.

    #6809813  | PERMALINK

    Hati

    Registriert seit: 15.02.2011

    Beiträge: 4,571

    Das erste Viertel von Niks Sampler könnte ich glatt als Visitenkarte verwenden.

    und den etwas anmaßenden Threadtitel sehe ich mal gelassen… :haha:

    --

    Edgirl &Ich dachte ja eigentlich das die Jungs Erwachsen sind, insbesondere Tobi aber nach der Aktion,... das ist Kindergartennivou. Als das heißt das die Jungs zu Kleinkindern Motieren oder was? ich blick echt nicht mehr durch...
    Ich auch nicht, Sina. Ich auch nicht.
    #6809815  | PERMALINK

    palez

    Registriert seit: 04.01.2007

    Beiträge: 10,795

    Hatiund den etwas anmaßenden Threadtitel sehe ich mal gelassen… :haha:

    Sorry. 😀

    Den Textteil habe ich fertig (das Ende wirst du hassen), der Banner ist noch in Arbeit. Wird heute aber noch was.

    #6809817  | PERMALINK

    Nik

    Registriert seit: 24.04.2011

    Beiträge: 9,611

    Tut mir leid, Hait, du bist der einzig wahre Clown 😆

    Schön schonmal, dass es für dich interessant ist Leo 🙂
    Wieso werde ich das Ende hassen? 🙁

    --

    #6809819  | PERMALINK

    palez

    Registriert seit: 04.01.2007

    Beiträge: 10,795

    NikWieso werde ich das Ende hassen? 🙁

    Naja, vielleicht nicht, aber viele finden sowas extrem unbefriedigend. Davon abgesehen schreibst du die eigentlichen Enden anhand der Coda ja selbst. ^^

    #6809821  | PERMALINK

    palez

    Registriert seit: 04.01.2007

    Beiträge: 10,795

    Zu meiner größten Überraschung habe ich das Ganze vor 1:35 des nächsten Tages fertigbekommen. Viel Spaß:

    Es war einmal ein arm Kind: Träume, die mich retten

    The 3rd and the Mortal – Magma
    Mit trägen Schritten nähere ich mich nun doch wieder dem Ort, den ich bei meinem Aufbruch noch so weit weg wie möglich wissen wollte, einzig um meinen Kopf, der sich auf meinem dürren Hals und meinen lächerlich knochigen Schultern so anfühlt wie ein Torpedo aus dem Zweiten Weltkrieg, auf Polyester und Kunststoff betten und die Augen schließen zu können. Nichts geht mehr. Ich stemme mich gegen die Tür, drehe den Schlüssel um, das Schloss ist rostig. Das Licht im Flur geht immer noch nicht an. Ganz langsam den Fuß heben und absetzen, einer nach dem anderen. Ich lasse mich in den Sessel fallen und meine Knochen sickern durch meine Poren in den Kunststoff, ich werde schwer und masselos, verschmolzen. Die Lampe auf dem Nachttisch wird langsam heller, eine Gnade der Energiesparlampen, die müden Augen an das Sehen zu gewöhnen. In einer Reichweite von einem Quadratmeter ist alles getaucht in Sepiatöne wie aus dem Katalog eines Todesbettenlagers, nur an der Decke ist ein schmutzig gelber Kreis. Meine erste Bewegung gilt der eingetrockneten Heilpflanze in der Schublade meines Nachttisches, einst geerntet von den schönen, schlanken Händen der Maria Juana unter der sengenden Sonne Mexicos, nun sorgfältig hochgezüchtet als eine Lebensknospe auf dem Fensterbrett im Krater, in dem ich lebe. Der süße Rauch erfüllt meine Lungenbläschen und lässt die Eiskristalle schmelzen, die sich in die Alveolarsepten geschnitten haben, als ich gelaufen bin und gelaufen, bereits mit disintegrierenden, heißlaufenden Synapsen, durch Wind und Schnee nach Hause. Es geht mir gut. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Das ganze Zimmer füllt sich mit orangem Baumharz, Luftblasen schweben zeitlupenhaft langsam an die Decke und meine Augen brennen. Meine Knochen machen keine Anstalten, aus dem Sessel wieder in meinen Körper zurückzukehren. Zum ersten Mal seit Tagen habe ich wieder echten, unmittelbaren, wahnsinnigen Hunger, nachdem ich mich an die konstante Benommenheit und Flauheit im Magen doch schon gewöhnt hatte (Natürlich weiß ich, dass im Kühlschrank nichts ist. Maria Juana, ich hätte nicht auf dich hören sollen.). Über mir fühle ich die zähe Schwere von dem späteren Bernstein, in dem ich mitsamt Zimmereinrichtung konserviert sein werde, aber immerhin nicht mehr den Druck, einen Körper zu haben. Also stehe ich auf, erwische mit meiner Hand noch den Nachttisch, um mich abzustützen, und ich liege im Bett und sickere durch die Decke.

    The Comsat Angels – Gone
    Das Aufwachen erinnert mich immer wieder daran, warum ich es normalerweise vorziehe, die Dinge nicht so zu sehen, wie sie sind. Wer die Wahl hat, wer immer und immer wieder die Möglichkeiten und die Wahl hat, der würde doch wohl wie ich die Erträglichkeit der sogenannten Wahrheit vorziehen. Die Wahrheit sind Kopfschmerzen. Die Wahrheit ist das schmerzliche und erniedrigende Sichbewusstwerden von der Wand und der Decke und jeder einzelnen Körperzelle. Die Wahrheit ist das Reißen der Hautdämme angesichts der Salzsäurefluten der Tatsachen. Die Wahrheit ist die Anerkennung der Begrenztheit. Die Wahrheit ist das verschlossene Tor zur Raum-, Zeit-, Licht- und Schwerelosigkeit. Ich halte die Augen dennoch weiter zu, vergrabe mich in mein Kissen, rutsche in meiner schneenassen Straßenkleidung herum wie in einer alten Schlangenhaut und gebe schließlich auf. Bringt nichts. Muss pissen. Während der Strahl auf die Keramik trifft, schaue ich auf die gelblichen Kacheln. Wahrscheinlich sind sie nicht gelb, wahrscheinlich kommt das vom Licht im Bad, aber wenn sie doch nie aus dem Bad rauskommen werden? Ich gehe an der Flurwand entlang, setze mich in der Küche in den Mondschein, werfe zwei Aspirinplacebos in ein Glas mit verkalktem Leitungswasser und warte, bis sie sich aufgelöst haben. Ich trinke aus. Schüttele mich vor bitterem Ekel. Und gehe zurück ins Schlafzimmer.
    Dicht vor meinem Bett steht ein kleiner Fernseher, ich schalte ihn an und mache den Ton leiser. Der Bildschirm flimmert. Es ist so schön. Die Radiowellen streichen über mein Gesicht wie elterliche Hände über die fieberheiße Stirn eines kranken Kindes. Es läuft irgendeine von den ganzen Dokusoaps der Privatsender mit den ähnlichen Namen. Ich mag sie, weil die Wohnungen und die Leute da so normal und die Probleme so lösbar wirken. Diese Folge kenne ich schon. Ich zappe durch die Kanäle, bis ich auf einem Sportsender hängenbleibe. Geile Luder besorgen‘s dir. Ruf mich an unter 0190 666666 und frag nach Mandy. Ach, meine kleine mittellose Osteuropäerin, mein wunderschöner, unerreichbarer Köder, wie gerne würde ich dir glauben. Du siehst mich nicht am anderen Ende des Bildschirms, aber ich mag dich. Hello, I love you, won’t you tell me your name? Wir könnten uns auf einen Kaffee treffen, das wäre uns ein bisschen peinlich, weil erste Treffen immer ein bisschen peinlich sind, aber dann treffen wir uns nochmal und nochmal. Du erzählst mir von deiner Familie in Bulgarien und dass du eigentlich am liebsten Philosophie oder Literatur studieren würdest. Wir verlieben uns und ziehen zusammen und haben irgendwann Kinder, oder ein Kind zumindest, dem ich meine Geschichten von den Schachtmenschen erzähle.
    Auf dem Nachttisch liegt Stella Das Schwein. Schau mich nicht so an. Ich packe das runde rosa Plüschding und werfe es träge durch den Raum. Der Himmel ist braun. Wieso muss der Tag nur so früh anfangen. Ich mache mir einen Kaffee, rauche. Eine reichlich blöde Angewohnheit, denn es hat mir zu keinem Zeitpunkt meiner Abhängigkeit in irgendeiner Weise Genuss bereitet und ist darüberhinaus auch noch zu teuer. Ich ziehe mir die inzwischen über den Boden verteilten kaltnassen Sachen wieder an, nehme die Packung Zigaretten mit, damit sich die Lungen unterwegs mit toxischer Wärme füllen, und gehe zur Tankstelle, um mir Essen zu holen. Vielleicht kommt auf dem Weg noch die Sonne raus.

    Messer – Romy
    Es ist Vormittag, also die überflüssigste Tageszeit. Andere Menschen können ihre Tage mit regelmäßig eingenommenen Mahlzeiten zerstückeln, aber ich esse nicht gerne. Irgendwie muss jetzt irgendwas gemacht werden. Ich glaube, ich schicke heute mal wieder ein paar Bewerbungen ab. Also später. Jetzt gehe ich erstmal zu Romy. Romy ist ein Mensch und ein Mädchen, und in vielerlei Hinsicht reicht das bereits. Romy ist außerdem lustig (glaube ich), hat eine hervorragende Plattensammlung, lässt ihre Hand mit der Zigarette auf dem aufgestützten Ellenbogen immer sehr galant herumbaumeln und ist außerordentlich gastfreundlich. Wir sind Freunde, und wir ficken manchmal. Auf dem Weg zu ihr rauche ich fünf Zigaretten, während sich die kalte Luft in meine Haut schneidet. Ich habe immer noch Kopfschmerzen. Weil es einfallslos ist, sich dem Elend zu ergeben, geht es mir gut. Es geht mir gut. Es geht mir gut.

    Romy öffnet die Tür in einem ausgewaschenen grauen Negligé und stützt sich mit Zigarette zwischen den Fingern am Türrahmen ab. „Komm rein“, sagt sie. Ich lege meinen Mantel über einen Holzstuhl und ziehe ihn mir nach wenigen Minuten wieder an; wie immer hat sie die Heizung nicht angemacht. Das ist typisch für sie, sie liebt die Kälte.
    „Ich glaub, ich bewerbe mich mal wieder.“
    „Ach, was du nicht sagst.“
    „Ja, ernsthaft. Innen Einzelhandel oder so. Du hast da doch auch mal gearbeitet.“
    „Hast du ‘ne Ahnung, wie lange es her ist, dass du sowas das letzte Mal angekündigt hast?
    „Nein?“
    „‘Nen Monat.“
    „Du deprimierst mich, weißt du das?“
    Sie kichert. „Na klar. Du deprimierst dich selber. Du kommst nur zu mir, um dich von einer anderen Person anwidern zu lassen als von dir selbst.“
    „Du weißt, dass das nicht stimmt.“
    „Ja, genau, wahrscheinlich hast du auch kein Geld für Stoff mehr.“
    „Nee, heute geht’s. Was hast so Neues im Regal an Platten?“
    „Ist nicht neu und wird dir nicht gefallen: Thelonious Monk und Art Ensemble of Chicago.“
    „Du denkst immer noch, du wärst zur falschen Zeit, am falschen Ort und auch noch mit der falschen Hautfarbe geboren worden.“
    „Tsssshh.“ Sie bläst den Rauch aus. Ihre Silhouette am Fensterbrett hebt sich dunkelgrau gegen den Betonhimmel ab. Erst vor kurzem ist sie in diese Wohnung im einundzwanzigsten Stockwerk gezogen, die perfekte Höhe zum Fliegen. Die Wände sind kahl, in der Wohnung gibt es kaum Möbel, nur zwei Stühle, einen Tisch, eine Matratze, und nicht ausgepackte Kisten.
    „Fällt dir nicht auch manchmal, äh, irgendwie die Decke auf den Kopf?“
    „Worauf willst du hinaus?“, fragt sie und drehte sich zu mir um.
    „Ich weiß nicht, ich finde, wir sollten heute rausgehen, feiern. Ich möchte mal wieder tanzen. Ich kann’s zwar nicht, aber ich mag Tanzen. Von mir aus können wir auch die anderen mitnehmen, ist mir relativ egal.“
    Es ist mir nicht egal.
    „Es ist Mittwoch. Und Feiern und sogenanntes Lebensgefühl sind eine Erfindung der Alkohol- und Unterhaltungsindustrie.“
    Sie rutscht vom Fensterbrett herunter, setzt sich auf den Boden, nimmt sich eine Tasche und wühlt darin herum. Ich setze mich zu ihr und gucke ihr über die Schulter. Sie füllt sich das zartrosa Pulver in die kleine Mulde ihrer Pfeife. Ich hole mein Feuerzeug vor ihr heraus, sitze immer noch hinter ihr und halte ihr die kleine Flamme hin, in einer angedeuteten, unvollendeten Umarmung. Das Knacken und Knistern der kleinen rosa Puderballungen, idyllisch wie ein Kaminfeuer.

    Wie erwartet springt sie nach einer Weile auf und tigert gehetzt durch den Raum, bis ihr Blick wieder auf mich fällt.
    „Wie lange habe ich dir eigentlich keinen Freundschaftsdienst erwiesen?“
    „Nenn es bitte nicht ‘Freundschaftsdienst‘.“
    „Du kleiner Romantiker. Du kleiner Idealist. Du kleines Arschloch.“
    Romy ist ein nettes Mädchen, aber was Ernsthaftes könnte ich mir mit ihr nicht vorstellen (sie sich mit mir noch weniger, deswegen hänge ich ein bisschen stärker an ihr, als ich sollte). Ich weiß nicht, ich glaube, ich hätte echt schon ganz gerne irgendwann ‘ne Frau oder feste Freundin und ein Kind, aber mit so jemandem wie Romy ergibt das für mich irgendwie keinen Sinn. Romy ist praktisch die weibliche Version von mir, denke ich manchmal, und mit weiblichen Versionen von mir sollte ich kein Kind in die Welt setzen.
    Sie zieht mich mit sich ins provisorische Schlafzimmer, bleibt kurz vor der Matratze stehen, dreht sich auf Zehenspitzen um, um mir nochmal mit einem süffisanten Lächeln in die Augen zu sehen, und lässt sich fallen. Die Sprungfedern in der Matratze geben ein knarrendes Geräusch von sich. Ich habe absolut keine Lust, mich auszuziehen, es ist zu kalt in der Wohnungsbaustelle und ich kann mir nicht vorstellen, dass Romy überhaupt sowas wie Körperwärme hat. Aber in einer Ecke der Matratze liegt eine zusammengeknüllte Decke, die mich vor dem Kältetod retten könnte, und wer weiß, vielleicht, wenn wir uns nahe genug sind…
    „Sag mal, machst du dir das Zeug eigentlich auch in den Schwanz?“
    Sie windet ihre knochige Hand unvermittelt wieder aus meiner Unterhose und schaut mich irritiert an. Die Antwort wartet sie nicht ab. Sie macht weiter. Ich küsse sie, sodass sie mit ihren Bemerkungen nicht wieder die Stimmung versauen kann. Ach, Romy, meine unterernährte, grauhäutige Eisprinzessin, mit deinen spitzen Schultern und hervortretenden Schlüsselbeinen siehst du ohne Negligé noch nackter aus als andere Menschen. Ich streiche sanft über den aufgestellten Flaum an deinen Armen, dann über das Verband an deinem Handgelenk. Wenn einem echt gar nichts mehr gelingt, setzt man sich einfach irgendwann mit Zigarette und in Unterwäsche aufs Fensterbrett und lächelt. Mehrere Minuten lang hast du dich da unten verausgabt, aber mein Penis wurde nicht steif, das ging dir wohl zu langsam. Du springst auf, greifst dir aus einem Hügel von Kleidung Slip und BH in verschiedenen Farben heraus und sagst, ohne Widerworte zuzulassen in deiner Enttäuschung: „Wir gehen zum Bahnhof.“
    „Okay.“

    Suicide – Frankie Teardrop
    Wir sitzen am Bahnhof. Henrik hält den Löffel über Romys Feuerzeug. Ich präpariere die Spritzen. Den Fußgängern ists egal. Jedenfalls sagt keiner was. Die gehn nur vorbei und schauen ganz verkrampft nicht hin und drücken ihre Mäntel beim Vorbeigehen an sich. Nein Mads, sagen sie zu ihren Gören, du hältst dich fern von den Junkies, sonst kriegst du noch ganz schlimme Junkiekrankheiten Mads. Spießiges Pack. Der Welt würds viel besser gehen, wenn wir einfach alle unsre Krankheiten teilen würden.
    So Mischen sind aber scheiße Romy.
    Wieso was hatse noch intus.
    Och nicht viel eigentlich. Rauchen zählt nicht. Bisschen Crack.
    Crack geht schnell wieder raus Mann.
    Komm gib her.
    Die bräunliche Flüssigkeit steigt in meine Spritze, sie reicht den Löffel dann vorsichtig weiter und ich binde meinen Arm ab. Romy nimmt währenddessen irgendetwas anderes. Sie wird immer so unerträglich, wenn sie in Gesellschaft drauf ist.
    Wisst ihr wir brauchen doch dieses London oder New York oder Berlin nicht. Die Stadt ist groß. London oder New York oder Berlin ist überall. Die Erde machen die Orte aus wo überall das Gleiche ist.
    Ich will ihr eigentlich widersprechen –
    Romy du bist ne Heldin.
    Huh
    H-E-R-O-I-N-A das heißt nämlich Heldin – Ge-ro-in-ja – das bist du Romy und ich bin dein Held.
    Ha ha ha ha ha das hast dir doch bestimmt wieder ausgedacht ha ha ha wen willst denn damit noch beeindrucken ey der denkt sich immer sowas aus und sülzt mich damit voll ha ha
    Romy halts Maul. Ich kenn den schon mindstns genausolang wie du Romy.
    JA ABER TROTZDEM MANN das ist so furchtbar einmal da hat er
    ROMY HALTS MAUL
    Ich will in ein warmes Land ziehn und durch Blumenfelder gehn und dass die Sonnnstrahln meine Nase kitzeln
    Na seht ihr was hab ich gesagt. Ey wo is eigntlich Frankie.
    Romy was soll das. Du weißt wo Frankie is.
    Woher zum Teufel soll ich wissen wo der is Mann. Der war seit zwei Wochen nicht mehr hier. Ey Frankie wo ist er. Frankie. Frankie
    Henrik guckt Romy böse an. Sie lacht und schaut sich um. Und dann, im nächsten Moment, ich, ich –
    EY MANN WAS ISN LOS AUF EINMAL steh wieder auf dir läuft da was aus der Nase Mann reiß dich zusammen kannst doch nicht einfach so anfangn zu heuln
    SCHEISSE SCHEISSE SCHEISSE ICH WEISS WAS MIT FRANKIE IS WIR WISSENS ALLE UND DU AUCH FRANKIE IST TOT TOT TOT VERSTEHST DU UND SEINE FRAU UND SEIN KIND UND OH GOTT NEIN
    REISS DICH ZUSAMMEN UND HÖR AUF ZU HEULN
    FRANKIE IST TOT UND FRANKIES KIND IST TOT
    Braucht dern Arzt
    Sei still Romy
    Henriks tiefe Stimme und seine breite muskulöse Hantelbankschulter und ich werd hochgeworfen und wieder runter und mein Kopf baumelt alles baumelt aus mir heraus ich häng am seidenen Faden und krieg keine Luft mehr mir wird schwindlig Kopfschmerzen die Kopfschmerzen sind wieder da
    Er setzt mich wieder ab. Legt mir eine Decke um die Schultern. Putzt mir die Nase. Alles in Zeitraffer. Alles steht still. Alles rauscht. Alles ist zu leise. U-Bahnen. Schemen vor gelben Kacheln. Meine Augen sind nass. Frankies zerschossener Kiefer grinst mich von der gegenüberliegenden Wand her an. We’re all Frankies. We’re all lying in hell.

    Nico – Evening of Light
    Oh Gott, scheiße, da bin ich wieder. Mit voller Wucht rausgeschleudert aus dem Planetenkarussell und gegen die Wand geknallt, ab der ich nun klebe. Meine Stirn ist nass, alles riecht nach Schweiß. Es ist warm. Ich habe einen Pyjama an. Es ist dunkel. Ich habe Angst, ernsthaft, ich weiß nicht, was in den letzten Stunden oder Tagen passiert ist und wie viel ich zerstört habe. Mein Mund bewegt sich. Na, dann hören wir mal, was kommt raus. Midnight winds are landing at the end of time…ich kenne es, ich kenne es…sie sitzt auf dem Stuhl vor meinem Bett und sagt das Gedicht auf in einem simplen melodischen Singsang, die Hände gefaltet. All die Jahre ist sie keinen Tag älter geworden. Sie beugt sich vor und zurück. Ich strecke meine Hand nach ihr aus. He, hörst du mich, Schwesterlein. Alles wird gut, Schwester. Schwester. Sie wiegt sich. Schaut auf den Boden. Singt und singt. The story is telling a true lie. Viele verschollene Kinder aus Amerika sind nun Schachtmenschen und leben glücklich und zufrieden. Keinen Tag gealtert. He, Schwester, alles wird gut. Auf den Tag genau acht Jahre, vier Monate und neun Tage, habe ich mir immer gesagt, acht Jahre vier Monate neun Tage, acht-vier-neun, so alt wird sie immer bleiben, habe ich mir immer gesagt aber es ist LÜGE LÜGE LÜGE WIE KANNST DU NUR WIE KANNST DU NUR IMMER NOCH DARAN DENKEN MÖRDER MÖRDER –
    Acht-vier-neun, habe ich am Tag danach noch gedacht, ich war im Schnee aufgewacht und am Leben. Acht-vier-neun und diese dunkle Gestalt mit dem Gewehr, und seine Nähe gellte und hämmerte immer noch in meinem Schädel. Früh genug zu Hause, acht-vier-neun, kein Sterbenswort. NEIN ICH WILL NICHTS VON MEINER TOTEN SCHWESTER HÖREN ICH WILL IHREN DURCHSCHOSSENEN ODER ZERSCHNITTENEN KÖRPER NICHT SEHEN VERSCHONT MICH dachte ich und die Untersuchungen dauerten und dauerten. Acht-vier-neun war alles, was zählte und: kein Sterbenswort, keine Erinnerung. Oh nun lassen mich meine Lungenbläschen wieder im Stich. Ich muss husten. Ich schmecke irgendwas. Aber es war nicht acht-vier-neun, es war acht-vier-siebzehn, und ich kann nur schreien und husten und alles reißt und zieht sich zusammen und ich muss aufstehen ich muss hier raus ich ich ich-
    Ich wollte deinen Leichnam nicht sehen und ich habe nichts nichts nichts gesagt und trage dich immer noch in meinem Kopf. Mich schüttelts. Mein Körper funktioniert noch. Klingen aus gelbem Licht fahren mir durch die Augen und ich falle und überall zerbrochene Cocktailgläser mit Quecksilber und Nagellackentferner. A thousands sins are heavy in the evening of light. Stella das Schwein sitzt auf dem Stuhl vor meinem Bett (ICH HAB SIE IN DIE ECKE GEWORFEN WAS ZUM TEUFEL). Stille Richterin und Henkerin mit aufgenähten Augen mach mit mir was du willst. Ich will dass mein Körper sich auflöst. Meine Augen in meinen Händen ich werfe sie weg ich brauch keine Sinne. Bitte macht mich aus. Stella das Schwein schlägt mit dem Hammer und sagt ihren Richterspruch SCHULDIG SCHULDIG SCHULDIG und ich falle und irgendwas bewegt sich in meiner Haut und mein Arm bricht auf und

    #6809823  | PERMALINK

    Nik

    Registriert seit: 24.04.2011

    Beiträge: 9,611

    Und bei mir sind die ersten beiden Reviews geschafft, wie flüssig das ging

    The Soft Moon – Sewer Sickness

    http://www.youtube.com/watch?v=1soVCQ3svn0
    Direkt mein erster Kontakt mit der wirren Welt, welche rund um palez Geschichte und ihrem ganz eigenen, kleinen Universum geschaffen wird, ist mit einer Band, welche mir vom Namen schon bekannt war.
    The Soft Moon hab‘ ich schon einige Male hier sehen können, sei es durch h0az oder auch Clemente, und natürlich vor allem durch palez. Dabei hätte ich aber im Leben nicht daran gedacht, was sich mir hier präsentiert. Denn das ist eine wilde Tour, welche vermutlich in Richtung neuerem Post Punks geht, zumindest so weit ich das beurteilen kann, da ich mich in dem Bereich kaum auskenne – ein Umstand, welcher sich durch den Sampler ja hoffentlich etwas ändern wird.
    Die Band wurde erst 2009 von Luis Vasquez gegründet, um ein Spektakel für alle Sinne zu erschaffen.
    Das würde ich zwar nur bei einem Konzert beurteilen können, aber schon dieser Umstand macht mich äußerst neugierig, und so mache ich mich dann mal an das Lied ran.

    Als er die Augen schloss zuckten blendende Blitze durch die Dunkelheit. Wie die Leinwand nach dem Abspann eines Filmes. Nur umgekehrt, von den Farben. Aber dieser Unterschied machte ihm nichts, denn auch er war… anders. Er konzentriert sich, und spürt das Blut in seinen Adern pulsieren.
    Ein repitiver Rhythmus, ohne Aussetzer, recht schnell und nachhallend. So in sich gekehrt, spürte er etwas, dass – vielleicht, irgendwann einmal – so etwas wie… Glück gewesen sein könnte.
    Zumindest ein leichter Anflug dessen, wie der Versuch des Sonnenlichts durch trübes Glas, vermoderte Holzverschläge und nicht zuletzt eine erstaunlich dicke Schicht abgestorbener Hautzellen zu dringen. Ein kühles Glimmen kam an. In der Dunkelheit des Raumes war es jedoch relativ hell.
    Mit einem langen Hauch bließ er bläuchlich grauen Rauch in die Luft.
    An seinen leeren Händen spürte er den kalten Zug des Stahls. Gedankenverloren bildete er mit fließenden Bewegungen den Lauf des Jagdgewehres nach. War er verrückt?
    Ja, ganz bestimmt war er das! Ein rauhes Lachen entglitt seiner ausgetrockneten Kehle.
    Ein Soziopath, ein Mörder. Ein gnadenloses Monster. Und Spaß hatte er daran. Wahre Befriedigung.
    Das spärliche Licht im Raum warf dunkle Schatten auf sein Gesicht, und zeichnete die Konturen seines Körpers mit gerade zu unmenschlicher Schärfe nach. Er grinste.

    Mit Sewer Sickness bietet palez den perfekten Einstieg in ihre Geschichte. Der gewisse Wahnsinn, der dem Protagonisten von Teil I. innewohnt, spiegelt sich auch in der Musik von The Soft Moon wieder. Das Lied fällt gänzlich instrumental aus. Ein repitiver Rhythmus durchzieht die ganzen zweieinhalb Minuten, ein bollernder, hallender Ton den ich nicht wirklich einordnen kann.
    Schon fast hypnotisierend. Dazu mischen sich bis zur Unkenntlichkeit verzerrte, hohe Gitarren, die wie ein Schwarm Bienen durch das Klangbild schwirren.
    Die Melodien sind extrem eingängig, und bleiben direkt im Ohrt. Vor allem mit dem durchgehenden Hintergrunggetrommle erschafft das Lied einen großartigen Eindruck. Es ist alles so minimalistisch gehalten, und erzeugt doch einen kleinen Wirbel, der ins Lied hereinzieht. Gefällt mir schon super, und lässt mich dem restlichen Verlauf der Geschichte sehr glücklich entgegenblicken.

    Angels of Light – New City in the Future

    http://www.youtube.com/watch?v=gMoISy3kL3I
    Angels Of Light also. Es war eigentlich vollkommen klar, dass palez versucht, mir ein Stück Musik von Michael Gira anzudrehen – wogegen ich nichts einzuwenden habe. Wie auch seine anderen Projekte trägt der Klang, der sich mir hier offenbart, deutlich die Handschrift Giras, und erinnert teils an eine Mischung aus Swans, Skin oder World of Skin, in welche etwas Country und etwas Folk gemischt wurde.
    Nach der Trennung von Swans wurde Angels of Light 1998 ins Leben gerufen, und löste sich 2009 anlässlich des Neubeginns der Schwäne wieder auf. Schade eigentlich.
    New City in the Future stammt noch aus den Frühjahren des kurzen Lebens der Gruppe, vom zweiten Album How I Loved You aus dem Jahr 2001.

    Gestanden hätte er es natürlich nie. Aber ihr Tod hatte ihn beschäftigt. Es war das erste Leben, welches er mit seinen Händen aus der Eiswüste des Lebens gehoben hatte, gleich Asche in den Sonnenuntergang gepustet. Er empfand keine Reue. Nein, dafür sah er keinen Anlass.
    Wenn er die Zeit dafür fand, suchte er den Ort, an dem sie starb, gerne auf.
    Mit leisem Knirschen wurde der flockige, weiße Schnee zu seinen Füßen zu einer festen, grauen Platte, wenn er den frisch zugeschneiten Weg langlief. An diesem Ort hatte sie wohl gelebt. Hier war sie, sozusagen, aufgeblüht.
    Wenn er die Augen schloss, sah er sie vor sich. Wie sie, leicht angetrunken, in kurzem Kleidchen den dünnen Kieselweg entlanghüpfte. Ihre weiße Haut leuchtete im Schein des runden Mondes. Wie Kreide.
    Andere hätten sie wohl für außergewöhnlich hübsch gehalten. Nicht, dass ihn das in irgendeiner Weise interessiert hätte. Warum auch.
    Er wollte sie ärgern, sich einen Spaß erlauben. Er heftete sich an ihre Fersen, so offensichtlich, dass sie es merken musste. Als sie panisch schneller lief, wurde auch er schneller. Als sie anfing zu rennen, rannte auch er. Schade für sie, dass sie – ohne es zu bemerken – immer weiter in den Wald hereinlief. Je schneller sein Atem seinen Lungen entfloh, je heftiger das Blut durch seine Adern schoss, desto größere Freude empfand er. Ein wundervoller Spaß. Dann war sie gestolpert. Den Abhang heruntergestürzt. Was ein Pech auch. Fast enttäuscht ging er zurück nach Hause.

    Der Körper, den die Polizei fand, war entstellt. Die Kleider hingen zerrissen an den langen, scharfen Wurzeln, welche den Abhang schmückten. Nackt, entblösst und schutzlos lag sie am Boden.
    Das rote Blut, welches aus ihrem Körper geflossen war, bildete kleine Rosen auf dem Dreck. Ihr Gesicht war ganz weiß, wie eine japanische Totenmaske. Ihre Gliedmaßen bildeten groteske Muster, zertrümmert. Zerbrochen. Zerstört.

    Mit einem friedlichen Gesichtausdruck überschaute er den Waldboden. So lang war es schon her. Für ihn eine Ewigkeit. Die Steine des Abhangs waren mit Schnee überzogen, glänzten vom Eis. Wie kolossale, friedliche Schreine. Wie Türme aus Eis stachen die Bäume in den Himmel. Hier war es gewesen. So leblos. So rein. Er hatte sie erlöst. Sie war nun für immer sein. You were mine… you were mine… you were mine… you were mine…

    Auf das Album angesprochen, sagte Gira, die Lieder wäre über Jahre entstanden, und auf ihre Weise alle Liebeslieder.Um so erschreckender ist es, wie perfekt der Text von New City in the Futuregeeignet sind, um die Geschichte seines ersten Opfers zu erzählen. Doch auch sie ist ja irgendwo, wenn auch sehr verkappt, eine Liebesgeschichte.
    Es ist geradezu erstaunlich, wie Gira es schafft, dass die Lieder immer gleich ablaufen, ohne je gleich zu klingen. Gewohnt fängt es mit nichts an, und wird zu allem. Leichte, vereinzelte Töne, dann seichte Countrygitarren. Traurige Melodien und diese kernige, markante Stimme. Leicht leiernd, spirituell anmutend. Es wird immer lauter, Akkordeon, Synthies und Schlagzeug kommen hinzu. Immer weiter verdichtet sich die Atmosphäre. Wachsende Verzweiflung kennzeichnet den Verlauf. Und das wird vor allem an der Stimme deutlich, immer weiter schreit Gira aus der Finsternis seiner Seele.
    Seit ich New City in the Future vor zwei Wochen gehört habe, lässt mich das Lied nicht los.
    Here… here it is, look at it shine. Pure, polished and white. Piercing the sky, new towers of ice, so lifeless and clean… you were mine, you were mine… you were mine, you were mine…
    Und so können sich auch Angels of Light wohl bald in meine Liste der Gründe weshalb ich Michael Gira verehre einreihen, in guter Gesellschaft von Swans und Skin/ World of Skin, aufgenommen werden.
    Was ein großartiges Erlebnis dieses Lied immer wieder ist. Unglaublich.

    --

    #6809825  | PERMALINK

    palez

    Registriert seit: 04.01.2007

    Beiträge: 10,795

    Wah. Ich kann grad nichts anderes tun, als leicht auf meinem Drehsessel auf- unf abzuwippen und mich zu freuen. :haha:
    Besonders interessant ist für mich die Abzweigung, die du in deiner eigenen Auslegung vom „New City in the Future“-Part einbaust. Die hatte ich, wie man nachlesen kann, gar nicht vorgesehen, aber sie ergibt völlig Sinn. Toll!

    #6809827  | PERMALINK

    Nik

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    Ich dachte, so mach ich mich eher unbeliebt, in dem Sinne
    Das Ende hasse ich übrigens nur in Bizarro World

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    #6809829  | PERMALINK

    Nik

    Registriert seit: 24.04.2011

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    So, frei nach dem Motto Anarchie (inspiriert durch den Subwayverkäufer heute) eine kleine Anekdote am Rande.

    Ich bin schon gegen acht aufgewacht, was eigentlich erstaunlich ist, da ich mich – unabhängig davon, wie viel ich geschlafen habe – regelrecht aus dem Bett quälen, wenn die Uhr nicht zwölf geschlagen hat.
    So war ich zumindest früh wach, bin duschen, und hatte noch knapp eine Stunde ohne Beschäftigung. Fürs Internet war ich zu faul. Beim Zocken wär ich sofort in einer Höhle gelandet, wo vierzig Viecher auf mich eindreschen, das hätte ich in meiner morgendlichen Verfassung wohl kaum überstanden.
    Und so kam es, dass ich in Ermangelung einer anderen, akzeptablen Aktivität Prosieben anmachte, und dort das Machwerk Road Trip bewundern durfte.
    Was wahrscheinlich gegen meinen Humor sprechen dürfte, war, dass ich ordentlich amüsiert war, aber das ist jetzt nicht das Thema. Was mir aber auffiel: Einer der Randrandcharaktere (zu weit am Rand um ein Randcharakter zu sein, eine bittere Fikvtivexistenz) fiel mir auf, da er mir wie ein verfilmter Girasong vorkam.
    Dieser Charakter war Mitch, und hier seine gesamten Auftritte auf einen Blick. Wer wissen will, ob er sich Angels of Light anhören will – das Lied bei 3:00 fasst die zehn Minuten von New City in the Future wohl perfekt zusammen 😆
    http://www.youtube.com/watch?v=zCIivoHlt7c

    Achja, noch was nebenbei: Heute lief mal wieder meine Lieblingssimpsonsfolge, und hat mir gezeigt wie göttlich dieses Lied ist
    http://www.youtube.com/watch?v=aVlGeynp8B0

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    #6809831  | PERMALINK

    palez

    Registriert seit: 04.01.2007

    Beiträge: 10,795

    „Bittersweet Symphony“ ist schön, aber in welcher Folge kam das?

    Vor einigen Jahren habe ich fünf Tage im Krankenhaus verbracht, weil ich nach einer Hundebissattacke an der Hand operiert werden musste. Die ersten zwei oder drei Tage stand ich völlig neben mir. Der Tiefpunkt war ein Vormittag, an dem ich im Bett lag, während der Fernseher tonlos lief, weil meine Zimmergenossinnen schliefen. Ich lag also da und habe mir vierunddreißig Minuten lang eine Kochshow angeschaut, obwohl ich Kochshows damals gehasst habe. Wahrscheinlich hätte ich auch in meinem damaligen katatonischen Zustand befunden, dass ich Besseres zu tun hätte, als mir „Road Trip“ anzusehen, wäre er zu dem Zeitpunkt im Fernsehen gekommen.
    Aber die Blonde war ganz süß.

    Auf arte läuft grad „Im Reich der Sinne“ von Nagisa Oshima.

    #6809833  | PERMALINK

    Nik

    Registriert seit: 24.04.2011

    Beiträge: 9,611

    Ich finde Medizin und Regenerationsfaehigkeit (keine Umlaute am Handy, yeah) ja faszinierend. Mir wurde mein halbes Knie entfernt, inklusive Knochenbohrung, Muskelrissen und Sehnenrissen etc., und ich lag nur zwei Tage. :haha: Ich hoffe es war nichts schlimmes bei dir 🙂
    Ehm, die Folge, wo sie sich an die Neunziger erinnern (Marge geht zum College und verliebt sich in ihren pseudointellektuellen Dekan, Homer gruendet mit der Band Sadgasm das Genre des Grunge etc.
    Da gibts eine Szene, wo sie sich trennen/ Sachen fuer den Auszug packen. Homer zerreisst ausversehen ein Stofftier, und als beide deprimiert schauend aus der Froschperspektive gefilmt werden, wie die Kugeln aus dem Stofftier purzeln, laeuft fuer ~ 5 Sekunden dieses markante ‚Due duemduem due due due‘ (u know 😈 ) und joa, immer ab der Szene laeuft dann Abends nicht mehr viel anderes hehe.
    Wie findest du eigentlich die neuen Banner? :haha:

    Cause it’s a bittersweet symphony this life. Trying to make ends meet, you’re a slave to money then you die. I’ll take you down the only road I’ve ever been down…

    --

    #6809835  | PERMALINK

    palez

    Registriert seit: 04.01.2007

    Beiträge: 10,795

    Oh, die neuen Banner sehe ich ja erst jetzt. Gott, bist du irre. :haha:

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