Re: Film Noir

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palez

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Doodlemoon😮

Watchmen, NCFOM, Fight Club und Drive zählen als Film Noir?
Ich bin überrascht!

Nicht direkt. Viele der von Kannibalist aufgezählten Filme weisen mal stärkere („Sin City“, „Taxi Driver“, „Drive“), mal weniger starke (für „Fight Club“ gibt es keine ordentliche Schublade) Neo-Noir-Tendenzen auf, die übernommenen Konventionen spielen aber nicht immer die wichtigste Rolle. Zwei Neo-Noirs, die das Regelwerk wirklich akribisch abarbeiten (ohne dabei zum gleichen Ergebnis wie die „Originale“ aus den 40ern und 50ern zu kommen), wären zum Beispiel „Chinatown“ (1974) und „L.A. Confidential“ (1998). Ein recht unkonventioneller, mir aber am Herzen liegender Kandidat ist der französische „Série noire“ von 1979. Obwohl die beiden Hauptcharaktere (Femme, bzw. Fille Fatale, Antiheld in moralischer Zwickmühle) in ihrer Funktion recht klassisch sind, hat der Film ein untypisch atemloses Tempo und eine verzweifelte Emotionalität, die einen direkt anspringt (im Gegensatz zur spartentypischen Gefühlskälte). Eher ein Geheimtipp, sollte man meiner Meinung nach aber trotzdem gesehen haben. Trotz des selbstverständlichen trockenen Zynismus‘ fand ich außerdem Robert Altmans „The Long Goodbye“ ziemlich lustig – lustig vor allem aufgrund der Zufälligkeit, mit welcher der Protagonist, der als Detektiv somit an sich komplett unfähig ist, über Intrigen und Verschwörungen stolpert. Wenn man bedenkt, wie viel Kontrolle die meisten Detektive in Film Noirs normalerweise über das Geschehen haben (oder zu haben glauben), ist er ein IMO sehr angenehmes Gegengewicht.

In dem Absatz war etwas von „Regelwerk“ zu lesen. Das gab es so direkt natürlich nicht, und es ist auch strittig, ob der Film Noir als ein eigenständiges und damit zeitloses Genre oder eine zeitgeistgebundene Bewegung angesehen werden muss. Dennoch gibt es durchaus so etwas wie einen klassischen harten Kern und bestimmte Erkennungsmerkmale. Und wenn man sich in einer ARTE-Themenwoche mehrere der Dinger mit nur kleinen Pausen reinpfeift, merkt man doch, wie schematisch das Ganze oft ist; die erwartbare Zwielichtigkeit der begehrenswerten und gefährlichen Frauenfiguren, die etwas zu coolen, etwas zu schlauen und etwas zu harten Detektive, die Korruption, der Rauch, die Nächte, die Schlagschatten, die Unmöglichkeit moralisch richtiger Entscheidungen.

Diese Verlagerung und ihre Akzeptanz an den Kinokassen waren verständlich, gewissermaßen auch notwendig für den Ausdruck des amerikanischen Mindsets zwischen Nachkriegszerschlagenheit und aufkeimender Kommunistenangst. Global gesehen herrschte ein Gefühl des vagen, namenlosen Bedrohtseins. In den relativen Friedenszeiten begannen sich die Zersetzungen in den inneren Strukturen der Stadt-Mikrogesellschaften und der privaten Beziehungen zu offenbaren. Die Menschen waren unsicher; folgerichtig, dass ihre Leinwandhelden es auch waren.
Klassische Lehrbeispiele: „The Killers“ (1947) sowie „Double Indemnity“ (1944), wobei ich den letzteren relativ langatmig und seine Figuren nicht allzu charismatisch finde.

Meine Lieblings-Noirs sind wohl die folgenden:

„In a Lonely Place“ (1950) – wobei die Bezeichnung „Film Noir“ ihm doch niemals gerecht werden kann. Er ist einerseits ein Meta-Noir: Hauptfigur ist ein Autor für Hollywood-Drehbücher, und zwar genau solcher, wie sie in den 40ern und 50ern den Markt fluteten. Der Krimi-Whodunit-Aspekt wird schon am Anfang antklimaktisch aufgelöst: der Fall ist klar, es werden keine Verschwörungen oder Nebenaspekte mehr aufgedeckt werden. Warum also noch weiter rumeiern? Weil sich im Schatten dieses eigentlich klaren Falls eine Liebesbeziehung entwickelt, und an diesem Punkt wird „In a Lonely Place“ vom Noir-Versuch zur Charakterstudie. Gespickt mit zitierwürdigen Dialogen voll von trockenem Witz und getragen von Humphrey Bogarts wohl bester Leistung, ist der Film ein so bitterer wie empathischer Abgesang, das Einsehen, dass manche Umstände (und manche Hauptprotagonisten) Liebe und Rettung unmöglich machen. Weil die Frage von vornherein geklärt ist, ist es entsprechend von vornherein egal, wer der Mörder ist – aber nie so egal wie am bitteren Ende. Das einzige, was „In a Lonely Place“ vom Lieblingsfilmstatus trennt, ist die Tatsache, dass die bildhübsche Gloria Grahame schauspielerisch nicht viel mehr drauf hat, als die Augenbraue hochzuziehen.

„The Lady From Shanghai“ (1947) – Leider ein Film mit viel ungenutztem Potential, denn von seinen ursprünglichen 150 Minuten fielen 63 der Schere zum Opfer – nach seinem Debüt-Meisterwerk „Citizen Kane“ ließen die Studios Orson Welles nur selten wirklich freie Hand. Gegen Ende rauscht der Film zu schnell und oberflächlich durch seine konfusen Plotstationen, die einer viel detaillierteren Ausarbeitung bedürft hätten. Dennoch merkt man oft genug, wie großartig das Restprodukt ist, und nicht nur hätte werden können. Es ist alles da an Merkmalen und Klischees – die Femme Fatale, die Korruption, die Desillusionierung – , aber in einer so hemmungslos übertriebenen Form, dass „The Lady From Shanghai“ sich fast schon als satirischer Kommentar zu common tropes lesen lassen könnte. Die Ideen, die Dimensionen des Schadens und die Plottwists sind oft genug überlebensgroß. Was „The Lady From Shanghai“ für mich aber noch eher zum Noir-Lieblingskandidaten macht, ist die bis heute ikonische und wegweisende Ausgestaltung vieler Szenen. Das Grande Finale im Spiegelsaal hat den Deutschen Expressionismus so gut verstanden und würdig beerbt wie wenig sonst, und dann wäre da noch die Szene, die ich als eine der ästhetisch formvollendetsten aller Zeiten erachte: die blondierte, frisch von ihrer verkaufsträchtigen roten Mähne getrennte Rita Hayworth liegt auf dem Boot, eine Nahaufnahme ihres umwerfend schönen Gesichtes. Sie singt von Einsamkeit, schaut in die Ferne – eine Träne glänzt in ihrem Augenwinkel.

€: Ja, ja, okay. Klugscheißer. Ihr postet mir alle zu schnell, als ich angefangen habe zu schreiben, hatte der Thread nur fünf Beiträge oder so.