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Nik

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Halves – Blood Branches

Was ist Schönheit? Schönheit ist ein abstraktiver Begriff. Sie ist ein Ausdruck für etwas, das im eigenen Empfinden die Grenze des „Angenehmen“ und „Hübschen“ übersteigt, sich über das Konventionelle erhebt. Es manifestiert sich als das Gefühl einer emotionalen Überwältigung. Es ist schwer zu sagen, was es nun ist, dass sich hinter diesem Konstrukt versteckt. Ein komplexes Geflecht aus Erziehung, Umfeld, gesellschaftlicher Indoktrination. Über das „Woher?“ diskutiert die Philosophie, über die Ästhetik. Über das „Warum?“ streitet die Naturwissenschaft. Und doch kann ich so viel darüber sagen – Blood Branches ist Schönheit. Pure Schönheit.
Schon mit den ersten Tönen, beim ersten Hören, hat es mich gefangen genommen. Eine nicht weiter definierbare Schwere liegt in der Luft, ein Anflug von Sehnsucht, vom Verlassensein, ein dumpfer Druck auf den Brustkorb.

Bilder zeichnen sich ab – die dunkle Tiefe des Meeres, das Rauschen in den Blüten der Bäume – ihre Blätter die langsam zu Boden segeln , das Zischen des Windes in einer engen Gasse, durch die Ritzen und die Risse im Backstein. Prasselnder Regen, der einen dünnen Pullover durchdringt, nasse Haare die im Gesicht kleben. Schwere Schritte auf bedrücktem Asphalt.
Die Flüchtigkeit eines Moments, wahrscheinlich noch eher die Verlorenheit in ebendiesem. Dieser Augenblick, in welchem man jemanden, etwas sieht, und eine nicht greifbare Intensität entsteht, eine Spannung – für nichts als den Moment. Ein Gefühl der Vollkommenheit, fragil und flüchtig.
In seinem Symposion erzählt Platon von den Kugelmenschen. Wesen mit vier Armen und Beinen, zwei Köpfen. Zeus teilte sie,, und so entstanden die zwei Geschlechter, Mann und Frau. In der Suche nach ihrer früheren Einheit versuchten sie diese wiederzuerlangen, und da sie nichts Anderes taten, drohten sie zu verhungern. So versetzte er ihre Genitalien nach vorne, um ihnen diese Einheit für kurze Zeit im Geschlechtsakt zu ermöglichen. Natürlich ist Blood Branches nicht erotisch. Worum es mir in dem Vergleich geht, ist das beschriebene Gefühl dieser geteilten Menschen. Das Unvollendete, die Suche nach der erhofften, der vermissten Einheit. Das kurze Gefühl der Vollkommenheit, gefolgt von Ernüchterung, von Sehnsucht. Dieses Gefühl ist es, welches das Lied bei jedem Hören begleitet. Der Aufbau, der bedächtige Einstieg, Klavier und Geige. Ein hoffnungsvolles Motiv, ein Anflug von Einheit. Stille. Ein sanfter Anschlag, melancholische Klaviermelodie. Dezente elektronische Beats, die schneller werden. Die Intensität steigt, etwas geschieht. Das zuvor ruhige Geschehen nimmt an Fahrt auf. Verheissungsvolle Streicher, die Beats werden lauter, deutlicher, ein unheilvoller Marsch, dramatisches Spiel. Stille. Ende.

Blood Branches ist im Grunde ein Slice of Life. Nicht irgendeines. Was mir schon beim ersten Hören auffiel, und für mich immer klarer wurde, und noch immer wird: Halves erzählen für mich die Geschichten von Asano Inio. Das, was sie mit ihren Zeichnungen schafft, die harten Kontraste, die Verlorenheit, das Ertrinken in der Fülle des Bildes, die bittersüße Tragik, die bedrückende Schwere der Stadt, die Sinnlosigkeit in dem, was so normal erscheint, und die Relevanz des Unscheinbaren malen Halves mit ihrem Klimax, den Melodien, der Dynamik des Liedes, den Instrumenten und Stimmungen.
Was jedoch noch weitaus wichtiger ist – wie ihre Geschichten ist das Lied nichts spezifisches. Es erzählt nicht die Geschichte eines Einzelnen. Man findet sich in der Geschichte wieder. Wenn ich das zarte Streichen höre, die liebevollen Anschläge, blitzen Bilder vor meinen Augen auf, Erinnerungen die sich verflüchtigen, wie durch einen dicken Nebel betrachtet.
Bilder von Gesichtern in Menschenfluten, schon lange vergessen, nie wieder gesehen.
Erinnerungen.

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