Re: Terrorismus legitimiert Ãœberwachsungsstaat ?

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abrakadabra

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DarayTatsache ist, dass bereits Anschläge mit Hilfe der Geheimdienste verhindert werden konnten. Ich erinnere da nur an die IS Attentäter, die in Brisbane und Sydney im September dieses Jahres gefasst werden konnten, das verhinderte Sprengstoffattentat von Frankreich im März oder der gestern in Tel Aviv.

Ist damit die Legitimation gewährleistet? Die Frage habe ich mir gestellt und kam zu keinem Schluss, denn ich habe mir überlegt, wieso man sie so oder so beantworten würde. Ich fand die Gedanken interessant und erlaube mir deshalb sie hier zu posten. Wer will darf sie lesen, aber ich weise darauf hin, dass sie eher als Exkurs zu betrachten sind und faktisch nichts zur Diskussion beitragen. Also los geht’s:

Wie wir die Frage beantworten hängt von verschiedenen Faktoren ab, die nicht in der Sache selber, sondern an uns als Urteilende geknüpft sind. Der erste Faktor ist das Verständnis der Aufgabe des Staates. Der zweite Faktor ist die Wertung von Leben vs. Lebensbedingungen.

Ich setze hier für uns Europäer voraus, dass unsere Idee der Aufgaben des Staates immer den Schutz der Bevölkerung und das Sicherstellen der bestmöglichen Lebensbedingungen der Bevölkerung zu jedem möglichen Zeitpunkt (i.e. jetzt und in Zukunft) beinhalten. Ich hoffe so weit seid ihr einverstanden. Nun haben wir im Falle staatlicher Überwachung das Problem, dass der Schutz der Bevölkerung dadurch potentiell positiv beeinflusst wird, die Lebensbedingungen aber potentiell negativ beeinflusst werden. Daher die Folgefrage: was ist uns wichtiger?

Hier hat sich gezeigt (z.B. in GB nach den Londoner Anschlägen 2007), dass die Zustimmung zu staatlichen Massnahmen, welche die Sicherheit zulasten der Lebensbedingungen verstärken sollen, in der Bevölkerung drastisch zunimmt, sobald die Bedrohung sich manifestiert hat.
Die Beantwortung der Frage scheint also davon abzuhängen, wie wir die Bedrohungslage sehen. Sie ist aber nicht in jedem Fall relativistisch, sondern kann auch von persönlichen Prinzipien, moralischen Positionen und religiösem Glauben abhängen. „Gebt mir Freiheit oder gebt mir den Tod!“ vs „Jeder hat das unabänderliche Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ in den Extrempositionen.

Die Position „Ich und meine Lebensbedingungen sind mir wichtiger als das Leben anderer“ ist eine Position, die wohl die meisten Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt innehaben, aber auch eine mit der sich die wenigsten Menschen wohl fühlen und entsprechend werden alternative Wege gesucht, die eigenen Lebensbedingungen so gut wie möglich zu halten, ohne diesen Position gegen aussen vertreten zu müssen. Am populärsten ist der Versuch, die Massnahmen zur Sicherung des Lebens als unwirksam darzustellen. Denn gelingt dies, dann hat man seine Freiheit gesichert ohne anderen das Recht auf Leben absprechen zu müssen.
Wenn wir nun aber (wie in diesem Fall) aufzeigen können, dass die Massnahmen zumindest in einigen Fällen Wirkung gezeigt haben, dann kommt ein weiterer äusserst unangenehmer Aspekt hinzu: Das Aufrechnen von Leben gegen Lebensbedingungen. Wie viele Leben ist es mir wert meine Lebensbedingungen beizubehalten? Diese Frage könnten wir eventuell sogar beantworten. Ich könnte durchaus sagen, wenn pro 1’000’000 Menschen einer pro Jahr durch ein Attentat stirbt, dann ist es das ein Opfer, welches wir gewillt sind anzunehmen, damit die anderen 999’999 ein besseres Leben führen können. Es ist für mich absolut unklar, wie wir ohne Willkür zu einer entsprechenden Zahl kommen sollen, aber es wäre zumindest eine Aussage die sich machen und dann prüfen liesse. Aber das nützt uns nichts denn die Frage ist so formuliert falsch. Denn wenn die Massnahmen umgesetzt werden, dann werden damit nicht so und so viele Leben gerettet, sondern es werden Taten verhindert, welche erst stattfinden müssten, damit wir die Toten und Verletzten quantifizieren könnten. Dadurch wird der Nutzen der Massnahmen zu etwas Abstraktem, während die Einschnitte in den Lebensbedingungen zu etwas sehr Konkretem werden können. Wenn wir also das Aufgeben bestimmter Rechte oder Privilegien gegen etwas aufwägen wollen, dann müssten wir auf Festnahmen, beschlagnahmte Waffen, Sprengstoff oder ähnliches aufwiegen, damit wir etwas Quantifizierbares haben. Und dies würde wiederum unsere Bereitschaft auf Einschränkungen unserer Lebensbedinungen stark mindern. Für ein Leben lässt es sich leichter auf etwas verzichten als für 200 Gramm Sprengstoff.

Die andere Möglichkeit ist das Anzweifeln der Notwendigkeit der Massnahmen, in unserem Fall durch das Anzweifeln von Berichterstattung und der Absichten der Regierenden etc. Auch auf dieser Weise, kann ich vermeiden zu sagen „Ich und meine Lebensbedingungen sind mir wichtiger als das Leben anderer.“ Die Frage ist hier jedoch die nach dem Ei und dem Huhn. Habe ich der Regierung schon dieselben Absichten unterstellt bevor die Massnahmen in meine Sphären eingedrungen sind? Oder unterstelle ich die Absichten, eben weil sie in meine Sphäre eingedrungen sind? Habe ich den Medien schon vorher nicht geglaubt? Oder erst als ihre Berichterstattung Auswirkungen auf mich hatte?
Aber auch die Beantwortung auf diese Fragen klärt nicht mit Sicherheit, ob ich mich vor meinem Egoismus zu schützen versuche oder aufrichtig glaube, was ich sage. Denn häufig denken wir über Dinge nicht sonderlich stark nach wenn sie uns nicht selber betreffen.

Ich habe oben gesagt, dass die meisten Menschen die Position „Ich und meine Lebensbedingungen sind mir wichtiger als das Leben anderer“ innehaben. Wenn ich das glaube, wieso gibt es dann meiner Meinung nach dennoch viele Menschen welche Massnahmen wie staatliche Überwachung gutheissen? Die Antwort ist ziemlich analog zur Gegenposition, nur dass hier nicht der Nutzen der Massnahmen, sondern die negative Beeinflussung der Massnahmen auf die Lebensbedingungen angezweifelt werden. der häufigste Satz den man hierzu hört ist „Wer nichts tut, hat nichts zu befürchten“. Nun gibt es auch hier verschiedene Fälle, die aufzeigen, dass solche Massnahmen auch die Leben einiger unschuldiger Menschen stark beeinflusst haben. In dem Fall können wir auch hier die Frage stellen, auf wie viele Menschen darf die Massnahme sich in welchem Ausmass negativ auswirken? Und dann wieder das Problem: Gegen was wiegen wir auf?

Wir haben bei solchen Fragen immer ein Problem: Wir haben keine Kontrollgruppe und damit keine Möglicheit zu sagen, was passiert wäre wenn wir Ja, anstatt nein gesagt hätten. Wir haben keine Möglichkeit solche Massnahmen empirisch zu prüfen. Uns fehlen also Fakten und somit bleiben uns nur historische, und kulturelle Bezüge (wie oft wird Orwell herbeigezogen, wenn es um einen Überwachungsstaat geht? Ein Buch – eine fiktive Geschichte – wird herangezogen als Argument…). Unsere Entscheidung wird beeinflusst durch das Ausmass unseres Egoismus und der Ehrlichkeit mit welcher wir diesen Vertreten, den bisherigen Urteilen und Entscheidungen, welche wir gefällt haben („Gesinnung“), sowie von unserem Wissen. Jemand, welcher die Stasi aber nie einen Anschlag erlebt hat, dürfte meiner Einschätzung nach anders urteilen als jemand der in Tel Aviv einen Anschlag erlebt hat, auch wenn alle anderen Komponenten übereinstimmen.

Kurz gesagt: Wie wir uns entscheiden sagt mehr aus über uns als über die Faktenlage. Möglicherweise fühlen wir uns deswegen bei solchen Diskussionen auch so schnell ans Bein gepinkelt und sind häufig nicht empfänglich für die Argumente anderer.

Interessanter Gedankengank, zu dem ich aber ein paar Sachen anmerken möchte:

1, Warum muss man „Ich und meine Lebensbedingungen sind mir wichtiger als das Leben anderer“ denken, um gegen Überwachung zu sein? Warum kann es nicht „Die Lebensbedingungen der Leute sind mir wichtiger als das Leben von Wenigen“ heißen? Warum muss es diese egoistische Position sein? Es sind ja nicht nur meine Lebensbedingungen davon betroffen, sondern die der Anderen auch.

2, Wir leben in einer Welt mit begrenzen Ressourcen, und der Preis der Überwachung ist daher nicht nur unsere Privatsphäre sondern auch verdammt viel Ressourcen, die man anderweitig verewnden hätte können. Weißt du wieviel wir für „Sicherheitsmaßnahmen“ an Flughäfen ausgeben? Was so die Budgets der Geheimdiesnte sind? Selbst wenn es stimmen würde, dass sie uns sicherer machen, müssen wir uns die Frage stellen, ob man mit dem gleichen Geld nicht noch viel mehr Menschen retten hätte können – und ich würde darauf wetten, dass das so ist.

3, zu deinen Beispielen aus Australien und Frankreich: Welche Überwachungsmaßnahmen haben denn da zum Ziel geführt (ich weiß es nicht)? Klassisches Geheimdienstliches Vorgehen, oder NSA-style Massenüberwachung von Kommunikation? Ich kann mich nur erinnern, dass das Pentagon nach den Snowden-Enthüllungen mal wissen wollte, wieviele Anschläge denn durch die von Snowden enthüllten Maßnahmen verhindert werden konnten. Die Antwort viel verdammt mager aus (nichts Nennenswertes), und kam sogar von den Geheimdiensten selbst. Dass wir keine Fakten über die Wirksamkeit von wenigstens einem Teil der Überwachungsmethoden haben, würde ich angesichts dessen nicht sagen.