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Daray
Kannst du mir sagen, woher du das hast (Autor, Werk evtl. Passage)?Denn wenn wir diese beiden Sätze mit den gängigen Begriffsbedeutungen lesen, dann kann ich darin keinen Sinn erkennen…
Der erste Satz ist noch einigermassen nachvollziehbar, also betrachten wir mal den zweiten: insbesondere das „Sollen“ macht mir hier Kopfzerbrechen. Ein ‚Sollen‘ ist doch stets ein äusserer Zwang und zwar stets ein Katalog, eine Aufzählung von Dingen die man soll oder nicht soll. Es ist somit noch nicht mal ein moralisches System, sondern eine dogmatische Liste von Verhaltensregeln (wie z.B. der Dekalog).
Doch auch wenn ich den Begriff des „Sollens“ jetzt mal noch etwas weiter fasse, so kann ich diesen Satz immer noch nicht verstehen. Angenommen ich tu was ich will und das deckt sich mit dem was ich soll. Wieso sollte dies dann mehr Freiheit bedeuten, als wenn ich einfach nur tue was ich will?
Tach!
Also, die einfachste Antwort vorneweg:
Ich beziehe mich stark auf den Philosophen / Soziologen / Anthropologen / Ethnologen Arnold Gehlen, dem Denker der philosophischen Anthropologie. Die Zitate sind nicht ganz exakt, aber (hoffentlich) sinngemäß und finden sich eigentlich in allen seinen bedeutenden Werken, wie zum Beispiel „Moral und Hypermoral“ oder „Die Seele im technischen Zeitalter„.
In einem hast Du natürlich recht, mit den umgangssprachlichen Sinndeutungen kommen wir hier nicht immer weiter, eigentlich hätte man vorher definieren müssen.
1.
Wir müssen uns von der zwanghaften (!) Vorstellung lösen, Zwang reflexartig in einem Atemzug mit Unfreiheit zu nennen.* Wäre dies der Fall, dann hieße der logisch umgekehrte Fall Freiheit = Beliebigkeit! In dem Begriff Freiheit steckt aber mehr als der Zufallsfaktor der Beliebigkeit, sondern das bewußte, reflektierte Handeln, einschließlich dem Treffen von Entscheidungen. Wenn ich entscheiden muß, dann heißt das automatisch, daß ich mich dazu zwinge, alle anderen als die gewählte Handlungsoption zu negieren. Auch dann, wenn eine der anderen Optionen eher meinem momentanen Lustempfinden entspräche.
Zwang ist also wiegesagt eine ganz eigentümlich menschliche „Verhaltensweise“.
*Anmerkung: Diese Denkweise haben nicht zuletzt die mir verhaßten (ich weiß, ich sollte beim Argumentieren keine wertenden Begriffe gebrauchen) ’68er kultiviert. Die geistigen Grundlagen sind freilich viel älter, aber das würde jetzt zu weit führen.
2.
Ich widerspreche der Behauptung, ‚Sollen‘ sei nur ein äußerer Zwang. Der Mensch wendet Zwang gegen sich selbst an, z.B. indem er Entscheidungen trifft (s.o.) und sich in Selbstdisziplin übt.
Ich widerspreche auch der Behauptung, ‚Sollen‘ sei stets ein dogmatischer Katalog. Alles ‚Sollen‘ ist von Menschen gemacht, die Natur kennt kein ‚Sollen‘, sondern nur (Kausal-)Zusammenhänge. D.h. auch wenn es vielleicht katalogartig niedergeschrieben ist, so entspringt ‚Sollen‘ immer einem geschichtlichen, kulturellen, sozialen, technologischen, und geistigen Kontext. Menschen machen Gesetze, die Gesetze verändern die Menschen, die Menschen ändern die Gesetze usw.
Das Problem ist nur heutzutage, daß viele nicht mehr verstehen, warum die Gesetze so geschrieben worden sind, wie sie es nun mal sind. Man kann und/oder will den „background“ nicht mehr verstehen, man kapiert nicht mehr, was der eigentliche Hintergedanke des ‚Sollens‘ ist. Und warum ist das so? Ich vermute, weil mit der Aufklärung und den ’68igern jeder in die eigene Verantwortung entlassen wurde – allerdings ist er mit der Bewältigung seiner eigenen Lebensumstände schon so beschäftigt, daß er sich keinen Kopp mehr darum machen kann und/oder will, welchen Sinn das ‚Sollen‘ hat.
Mit anderen Worten, wir haben uns der Sinnzusammenhänge beraubt, die uns früher durch gewisse Institutionen (z.B. Kirche, Staat, Könige, etc.) erklärt wurden – ob die Erklärungen „gut“ oder „schlecht“ waren ist egal, wir führen ja keine normative Diskussion. Und weil wir die Zusammenhänge nicht mehr kennen, nehmen wir das ‚Sollen‘ nur noch als repressiven Verhaltenskatalog wahr.
Umgekehrt: alle, die mit dem ‚Sollen‘ auch noch einen Sinn und eine Weltanschauung verbinden, für die ist das ‚Sollen‘ sogar Ent- statt Be-Lastung! So wie eigentlich jede bewährte Regel eine Entlastung ist. Wo wäre der Mensch ohne Regeln? Er müßte jeden Tag nach dem Aufstehen das Rad neu erfinden, durch Regeln und Gewohnheiten (nichts anderes sind Sitten, Traditionen, Gesetze etc.) gewinnt er Zeit, Kapazität und Sicherheit für kreativere, produktivere Dinge.
Letztlich ist das ‚Sollen‘ nicht moralisch, sondern vernünftig! Und im Hintergrund des ‚Sollens‘ steht eine bestimmte Weltanschauung! Heutzutage leben wir zwar in einer Informationsgesellschaft, man wird mit unnützen Informationen zugemüllt, aber ohne Theorie/Weltanschauung wird man nur verwirrt.
3.
Warum ist nun absolute Freiheit vorhanden, wenn ‚Wollen‘ und ‚Sollen‘ identisch sind? (Wobei man dazu sagen muß, daß das ein rein hypothetischer Punkt ist, man kann sich dem Punkt höchstens annähern).
Vorbemerkung: Wann wurden in der Geschichte Diskussionen um die Freiheit des Menschen geführt? Meistens dann, wenn das herrschende moralische System desavouiert/im Verfall war, dadurch die erwähnten Sinnzusammenhänge verloren gingen – in der Literatur läßt sich dieser Zusammenhang gut nachvollziehen.
Denn bis zu diesem Zeitpunkt stellte sich den Menschen die Frage der eigenen Freiheit nicht: das ‚Sollen‘ war ihnen so selbstverständlich, daß sich die Fragen nicht stellten. (Ob das damalige ‚Sollen‘ nach heutigen Maßstäben „gut“ oder „schlecht“ war, ist für diese wertfreie Diskussion irrelevant).
Heutzutage haben wir den Zustand der „Sollens-Krise“ zum moralischen Absolutheitsanspruch erhoben, im Prinzip schmiedet sich jeder seine eigene Moral, naheliegend, daß er sie an sich selbst ausrichtet. Das bedeutet freilich auch Konflikt mit der „Ego-Moral“ des Nachbarn. Der
Inbegriff dieser „Ego-Moral“ heißt bei den meisten: Lustprinzip!
Die Folgen kann Dir jeder Soziologe wie aus der Pistole geschossen aufzählen:
– Negation von Verantwortung
– Negation von Verpflichtung
– Individualisierung bzw. Atomisierung, Single-Dasein
– Selbst-Betäubung ganzer Gesellschaftsschichten: man wird von Myriaden unsortierter Informationen erschlagen, liegt im moralischen Konflikt mit sich selbst und seiner Umgebung, also gibt man sich lieber der Betäubung hin, die da viele Namen haben: Kokain, Extremsport, Entertainment usw.
Die Identität von ‚Wollen‘ und ‚Sollen‘ bedeutet nicht, daß das eine das andere dominiert/übernimmt, sondern beide sich dialektisch aufeinander zubewegen. (Ich erinnere: ‚Sollen ist von Menschen, im Prinzip jedem Einzelnen, gemacht) Es heißt auch nicht, daß der private Bereich von Außen (dem öffentlichen Raum) kontrolliert wird, sondern unter anderem:
– Verantwortungs- und Pflichtbewußtsein bei gleichzeitig kritischem Denken
– je privater, desto toleranter, je öffentlicher, desto intoleranter
– eine einigermaßen kohärente, verständliche Moral für alle
– …
Wenn sich die Frage der Freiheit nicht mehr stellt, dann haben wir viel Freiheit.
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Qui tacet consentire videtur!