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Der Replik zweiter Teil 😉
Aquifel
blacklebaron
Denn bis zu diesem Zeitpunkt stellte sich den Menschen die Frage der eigenen Freiheit nicht: das ‚Sollen‘ war ihnen so selbstverständlich, daß sich die Fragen nicht stellten. (Ob das damalige ‚Sollen‘ nach heutigen Maßstäben „gut“ oder „schlecht“ war, ist für diese wertfreie Diskussion irrelevant).
Oder eher deshalb da, gerade vor einigen Jahrhunderten, der einfache Mann durch Umstände, wie stärkeres religiöses Empfinden (oftmals) oder schlichtweg aus Problemen im Alltag, mit denen er genug zu Ringen hatte und auch die allgemeine weniger emanzipierte Situation der Gesellschaft, nicht so stark das Bedürfnis bzw. durch das Gefühl der Determiniertheit nicht den Eindruck, dass er direkt etwas ändern könnte hatte. Und die dann stattfindenen Revolutionen hatten neben dem Gefühl des moralischen Verfalls auch viel mit der Unfreiheit zu tun.
Richtig, er war moralisch aufgehoben, ob man das heute gut oder schlecht finden mag. Aber ich denke, erst die moralische Dekadenz hat die Revolutionen in Gang gebracht. Nur wem sein moralisches Weltbild zerrüttet wird, hat den Mut und das Herz, sein Leben in einer Revolution zu riskieren. Ausnahmen sehe ich nur, wenn’s um nackte Überleben geht. Revolution gab’s bei uns noch keine, weil wir noch ausreichend betäubt und wirtschaftlich gesättigt sind, in Deutschland ist man geistig viel zu bräsig / eingelullt für sowas – und der Zustand der Nicht-Moral ist ja bei uns eh gewollt…
Aquifel
blacklebaron
Heutzutage haben wir den Zustand der „Sollens-Krise“ zum moralischen Absolutheitsanspruch erhoben, im Prinzip schmiedet sich jeder seine eigene Moral, naheliegend, daß er sie an sich selbst ausrichtet. Das bedeutet freilich auch Konflikt mit der „Ego-Moral“ des Nachbarn. Der
Inbegriff dieser „Ego-Moral“ heißt bei den meisten: Lustprinzip!
Wobei das imo nicht so krass ist wie du sagst und durch die Entwicklungen in der Vergangenheit, ist das eher nicht so abwegig, dass es so gekommen ist. Und letztendlich muss jeder selbst entscheiden, was er moralisch verantworten kann. Ohne partielle Ego-Moral der Individuen wäre das Leben öde, da wir in in jeglicher Hinsicht diesbezüglich konform gängen. Aufgrund der verschiedenen Kulturen wäre das global gesehen alles aber eh kaum möglich.
Und zum Lustprinzip : Du verteufelst es ja geradezu. Aber in nem gewissen Rahmen ist gegen dieses Prinzip nichts einzuwenden! Vor allem, wenn man die Konsequenzen seines Handel´ns trägt, ergo auch die Verantwortung.
Ich hab‘ nix gegen das Lustprinzip, solange es im privaten Bereich bleibt. Da jeder tun und machen, was er will (maximale Toleranz, siehe oben). Und wenn ein Pärchen privat auf derben SM mit NS und KV steht, dann – so sehe ich das – habe ich darüber kein moralisches Urteil zu fällen.
ABER: Ich kann es nicht vertragen, wenn das Lustprinzip quasi Staatsauftrag und Staatsprinzip wird, à la „jeder bekommt genug Geld, um sich zu betäuben.“ Egal, woher das Geld kommt. (Jaja, ich überspitze alles etwas…) Der Staat wird zum Erfüllungshelfer des persönlichen Glücks, und wenn er nicht alles leistet, was wir uns wünschen (weil es z.T. auch garnicht seine originären Aufgaben sind), dann wird er mal schnell zum machtgeilen Unterdrücker deklariert. Für den einzelnen, der eine Forderung nach der anderen raushaut: „Staat mach dies, leiste das,…“ ist das natürlich eine sehr schmeichelhafte Position.
Man muß es auch nicht Lustprinzip nennen… jedenfalls sollen die Individualrechte die ganze Gesellschaft dominieren, von einem Gleichgewicht von Rechten und Pflichten kann nicht mehr ernsthaft die Rede sein.
Schau sie Dir doch an, die Links-Liberalen und Links-Alternativen, reden nur und nur von Bürgerrechten, nie von den Rechten der Gesellschaft, die ihnen diese Rechte erst ermöglichte. Ich formuliere absichtlich etwas drastisch: sie sind die wahren A-sozialen dieser Republik.
Aquifel
blacklebaron
- Individualisierung bzw. Atomisierung, Single-Dasein
– Selbst-Betäubung ganzer Gesellschaftsschichten: man wird von Myriaden unsortierter Informationen erschlagen, liegt im moralischen Konflikt mit sich selbst und seiner Umgebung, also gibt man sich lieber der Betäubung hin, die da viele Namen haben: Kokain, Extremsport, Entertainment usw.
Das klingt, als ob du mit der Ablenkung im Leben ein grosses Problem hast. Letztendlich läuft alles auf den Tod hinaus. Und vieles lenkt uns von dieser Realität ab. Manche brauchen mehr Ablenkung, andere weniger. Für den einen macht es mehr Sinn dies durch harte und lange Arbeit zu tun, für andere ist es besser, sie schauen täglich ihre drei Stunden fern. Krass gesagt gibt es für jeden Akt einen der davon profitiert, auch wenn oft irgendwo einer verliert. Aber was wäre schlimmer, als am Ende abzutreten und den Grossteil seines Lebens zu bereuen, weil man sich nicht ab und an dem Lustprinzip, der partiellen Ego Moral zugewendet zu haben?
Ich will gar nicht widersprechen, daß man Ablenkung, Muse usw. braucht. Aber dem Bedarf an benötigter Ablenkung zu urteilen, muß Deutschland grad in den letzten paar Jahrzehnten besonders langweilig geworden sein. Und woher kommt das? Weil sich jeder ins private Schneckenhaus zurückzieht, und der Staat wurde für diese Politik instrumentalisiert.
Kann man nicht auch zufrieden auf sein Leben blicken, wenn man auf öffentlicher Bühne was gerissen hat? Eigentlich wohl schon, aber nicht hier: Politiker, und alle die entfernt was mit Politik zu tun haben, sind eh die moralischen Verlierer, egal, was sie tun. Arme Schweine!
Auch ich muß mich oft genug für meinen Beruf rechtfertigen, weil ich nun mal direkt für den Staat arbeite. Und ich muß mich blöd anschauen lassen, weil ich ehrenamtlich in einer Partei arbeite, wiegesagt: ehrenamtlich! Kein Geld! Dafür kann man sich doch nix kaufen – das ist’s, was ich in den Gesichtern vieler lese. Oder auch: Warum tust Du dir das an (unter all den Betrügern, Gaunern, etc.)? Da hast Du doch nix von!
Und die Medien und Schreiberlinge machen das Spielchen gerne mit, profitieren ja noch davon: ist ja ohnehin ein häufig ein sehr linkes Gesocks. Die habens ja geschafft, dem Staat seine dürftige moralische Autorität abzukaufen, seitdem verwalten sie das verkürzte „politische“ Bewußtsein der Deutschen, welche sich nicht entblöden, das meist oberflächliche und hyperkritizistische Geseier eifrig nachzuäffen. Damit wird eine latente Querulanz erzeugt, sie findet schon ihren Gegner. Und die Medien freuen sich, denn „bad news are good news“ und der Rubel rollt.
Aquifel
blacklebaron
- je privater, desto toleranter, je öffentlicher, desto intoleranter
Das klingt irgendwie nach nem ganz seltsamen Weltbild.Öffentlich kann man sicher weniger sagen/machen, als privat, aber das klingt so zu krass formuliert.
Ja, ich hab schon etwas überspitzt formuliert. Aber ich wehre mich mich gegen den „Nihilismus des Geltenlassens von schlechthin Allem“. Ohne eine gewisse kulturelle Identität (Leitkultur – auch wenn der Begriff verpönt ist; die permanente Argumentation mit der Nazi-Keule ist ja auch so’n Unding) kann keine Gesellschaft gedeihen.
Aquifel
blacklebaron
- eine einigermaßen kohärente, verständliche Moral für alle
Gewisse moralische Grundprinzipien hat jede Kultur und ausser gestörte Individuen geht jeder damit halbwegs konform. Mehr würde zur Entindividualisierung führen, was unserem heutigen Bewusstsein nach ziemlich hart wäre.
Stimmt schon, nur was im Moment passiert, ist genau das Gegenteil, es gibt nur noch ganz wenige gesellschaftsübergreifende Grundprinzipien. Und wer versucht, daran was zu ändern, bekommt die erwähnte Nazi-Keule um die Ohren geballert: „Buh, Leitkultur = Herrenmensch = Auschwitz“ So ähnlich läuft doch die „Argumentation“.
Aquifel
blacklebaron
Wenn sich die Frage der Freiheit nicht mehr stellt, dann haben wir viel Freiheit.
Eigentlich nicht, wir empfinden nur nicht das Bedürfnis nach Freiheit. Wer aber einmal den Blick auf die Freiheit, der dem Menschen in der Realität möglich ist, geworfen hat, der wird, zu Recht, nicht mehr wirklich einsehen, warum er sie aufgeben sollte. Es ist wie mit Träumen : Gehen sie in Erfüllung ist es schöner als alles andere, zerbrechen sie aber, ist es shclimmer, als sie nie erlebt zu haben (zumindets für den Moment, bis man „Ersatz“ gefunden hat).
Was aber alles immer noch nicht erklärt, wie wirkliche Freiheit im Zusammenhang/Annäherung mit der Einheit von Sollen und Wollen steht. Du hast schlichtweg erklärt, dass wir, wenn Sollen und Wollen eins sind, nicht mehr das Bedürfnis haben, über Freiheit nachzudenken. Und das ist wie Dummheit/Naivität : Macht einen scheinbar glücklicher, da man vieles nicht hinterblickt/hinterfragt, aber endgültige Befriedigung bietet es dem Geist oder der Seele nur sehr bedingt (auch wenn man so durchaus ohne Reue sterben kann und in der Sekunde des Todes sein Leben als erfüllt betrachten kann).
Das erreichen des höchstmöglichen Grades wirklicher Freiheit für die höchstmögliche Anzahl Personen sollte daher das Ziel sein und nicht den Leuten das Bedürfnis nach Freiheit zu nehmen. Das ähnelt Propaganda : es scheint Probleme zu lösen, für den Verstand derer, die drauf reinfallen/sich dem hingeben, aber wirklich gelöst wird damit nicht mal ein Kreuzworträtsel in der Bildzeitung.
Edit : Abgesehen davon würde die Identität von Sollen udn Wollen auf einer gemeinsamen Basis des (moralischen) Sollens, die Individualität des Ichs einschränken, was die Progression des Menschen in geistiger Hinsicht zumindest teilweise stagnieren lassen würde.
So wie du vieles sagts, wäre der Mensch eher einer Maschine als einem potentiell hochgradig denkfähigem Tier ähnlich.
Hier liegt immer noch ein Mißverständnis: es geht nicht darum, den Menschen das Bedürfnis nach Freiheit zu nehmen, es wird sich im Idealfall von selbst auflösen. Und ich wiederhole auch: Ohne Sinn können ‚Sollen‘ und ‚Wollen‘ nicht dialektisch vermittelt werden. Also keine Naivität/Dummheit… Und weder soll das ‚Wollen‘ dem ‚Sollen‘ geopfert werden, noch umgekehrt, sondern sie sollen im Gleichgewicht einander zugeführt werden. Und ich glaube, in diesem Zustand hätte der Mensch die meisten freien geistigen und physischen Kapazitäten, um sich produktiveren Dingen zu widmen. Im momentanen Status der Hyperindividualität verwendet er viel Zeit auf Pseudo-Selbstverwirklichung, Organisation seiner vielen Freizeit, und Artikulation seiner trotzdem vorhandenen Unzufriedenheit.
Anmerkung am Rande: mich überrascht es nicht, daß in Deutschland die Mitgliederzahl in Vereinen und Organisationen von öffentlichen Belang drastisch zurückgeht: dort müßte man ja Verpflichtungen eingehen. Im Gegensatz dazu stehen private Gruppen und Vereine, also ohne Außenwirksamkeit.
Aquifel
blacklebaron
- Verantwortungs- und Pflichtbewußtsein bei gleichzeitig kritischem Denken
Das funktioniert in deiner Anschauung aber nur, wenn die moralischen Konventionen nicht hinterfragt werden, bzw. nicht mit einer negierenden Antwort hinterfragt werden. Und moralisch ist das durch Subjektivität möglich. nur bei mathematischen(physikalischen Konventionen, die uns zur Greifbarkeit des Themas dienen, wäre das abstrus und unmöglich (bzw. möglich, aber sinnfrei).
Kann ich nicht nachvollziehen… warum muss es immer gleich „Revolutionen oder Stagnation“ heißen. Wenn ich mich nicht irre, hat doch die Systemlehre gezeigt, daß sich Systeme aus sich selbst heraus regulieren/reformieren können, um somit Extremfälle wie Totalitarismus oder Moralanarchie/Kulturnihilismus zu vermeiden. Man muß „nur“ das System entsprechend gestalten. Aber dazu sind wohl Diktatur wie Demokratie nicht gut geeignet, oder ist es typisch deutsch, von einem Extrem ins andere zu schlagen?
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Qui tacet consentire videtur!