Re: Filmbewertungsthread

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palez

Registriert seit: 04.01.2007

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„Trois Couleurs: Bleu“ ist für mich ein besserer Film als „Ein kurzer Film über das Töten“/“Dekalog V“. Wurden in seinem Moraldrama aus den 80ern Ideen in Optik und musikalischer Untermalung, so gut sie auch gemeint waren, noch recht ungeschickt umgesetzt, war ich ob der Virtuosität Kieślowski und der sparsam, aber bewusst gesetzten Details doch wirklich überrascht. Natürlich haben einige Jahre und ein Weggang aus Polen nach Frankreich aus Kieślowski keinen Kubrick gemacht, und dafür sollte man eigentlich dankbar sein, denn dieser Film verlangt durchaus nach Minimalismus. Seine inszenatorische Sorgfalt ist dabei immer zu spüren, selbst die hochdramatische Filmmusik und die etwas aufdringlich in blaues Zwielicht getauchten Bilder passen nach einer Weile besser, als man denkt. Die größte Verantwortung lag bei diesem Film aber bei seiner Hauptdarstellerin. Juliette Binoche spielt Julie, eine Frau, die nach einem Autounfall Mann und Kind und damit jeglichen Lebenshalt verliert und zunächst jeglichen Kontakt zu ihrem früheren Leben und sozialem Umfeld zu kappen versucht. Mit ihr steht und fällt der Film, und man kann von einem wahren Glücksfall reden, dass Kieślowskis Wahl auf sie gefallen ist. Um ehrlich zu sein, habe ich Binoche selbst nach dem ziemlich guten „Les Amants du Pont-Neuf“ eine solche Leistung nicht zugetraut. Es ist tatsächlich ungeahnt fesselnd, aus ihrem zarten Gesicht, das mit gebremster Mimik Schmerz, Wut und Verbitterung zurückzuhalten versucht, die Gedanken von Julie herauszulesen. In bezeichnend dysfunktionalen Gesprächen wird meist mehr nicht gesagt als gesagt, und wäre Binoche nicht imstande gewesen, diesen Umstand und das nicht-Gesagte zu vermitteln, verlöre der Film fast seine gesamte Substanz. Natürlich ist Kieślowski auch hier noch gewissermaßen Moralist, aber ohne den Tunnelblick des (gerade deswegen guten und wichtigen) fünften „Dekalogs“, sondern auf eine subtile, aber nicht weniger eindringliche Art und Weise. Freiheit, für die die Farbe Blau in der französischen Flagge steht, kann es für ihn ebensowenig in unaufrichtig geführten Beziehungen und Abhängigkeit geben wie in vollkommener Isolation; Freiheit ist eine innere Einstellung, die Bereitschaft, an seiner gegenwärtigen Lage etwas zum Besseren zu verändern und sich dem Leben zu stellen.
Also ja…wenn ich „Dekalog V“ aus heutiger Sicht eine 7/10 geben würde, bekommt der hier entweder 8/10 oder 8,5/10.