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palez

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NezyraelDann schreib du jetzt auch was zu La Dispute

La Dispute – Wildlife

Wenn die zuständigen Internet- und Print-Medien ihre Jahresbestenlisen veröffentlicht haben und sich anderem, also dem Jahr 2012 widmen können, werden La Dispute sich möglicherweise fragen, ob besagte Medien (und sie sich selbst) ihnen wirklich so einen großen Gefallen getan haben. Mit „The Wave“ und so. „Wildlife“ ist der beste Beleg für die Sinnlosigkeit des Unterfangens, einen musikalischen Rückschluss auf sich selbst mal wieder in größere Zusammenhänge zu überführen. Kein anderes Album würde dadurch gefühlt mehr missverstanden werden. Ja, es ist wahrscheinlich einfach und reizvoll, im drahtigen, rockinduzierten, strukturell verschnörkelten Posthardcore von La Dispute zu irgendwas eine Gegenthese zu sehen. Eine Gegenthese zu strenger Ordnung, zum kürzesten Weg (weil man die interessantesten Dinge auf Umwegen und Abzweigungen findet). Eine Gegenthese zu Slogans, zu Aphorismen, zu Tattoos, zu Textzitaten in Statusnachrichten. Die Songtexte von Jordan Dreyer sind unhandliche Prosablöcke, die beim Lesen nicht gerade dazu einladen, gesungen zu werden. Umso seltsamer, dass sie erst nach der Musik formuliert wurden (die sich wiederum nach der jeweiligen Geschichte und Stimmung richtete). Daniel Gerhard hat in seinem Review für Visions die Wörter gezählt, es sind 6000, von denen wenige wiederholt werden und man sich keins hätte sparen können. Überhaupt Wiederholung: Eine Gegenthese zur herkömmlichen Kompositionsmathematik. La Dispute haben kapiert, wann das Strophe-Refrain-Strophe-Schema eher Barriere als Stützgerüst ist, und lassen’s sein. Wenn etwas wiederholt wird, dann aus größter Not heraus und nicht der Form halber.

Aber das zieht man alles beim Hören am besten gar nicht in Betracht, blendet aus, dass es für „Wildlife“ außer einem selbst überhaupt noch ein Publikum gibt, und nimmt an, dass Außenwirkung das Letzte war, woran La Dispute beim Komponieren gedacht haben. Die Stücke von „Wildlife“ haben einen eigenen Mikrokosmos, in dem jede Eigenschaft des Albums ein Zahnrad im System ist. Dieser Mikrokosmos ist die Realität der Kurzstorys Jordan Dreyers, eine Realität, deren Wirkungsgrad nicht über Grand Rapids, Michigan hinausreicht, aber das soll er auch gar nicht. Diese wahren Storys gehören ihm und der Stadt. Es sind Storys über Menschen, die bei 200 km/h aus einem Auto auf die Fahrbahn geschmissen werden, dessen Kennzeichen „LI FE“ lautet. Narbenübersäte Väter mit schizophrenen Söhnen, sterbende Kinder, Krebs und Drive-By-Shootings. Absurde Grausamkeit, keine Happy Ends, keine poetische Gerechtigkeit, sogar die Trotzhoffnung und die Erkenntnis des Erzählers gibt es hier nur, wenn man sie sich wirklich wünscht. „Can I still get into heaven if I kill myself?“ Dreyer hat nicht einmal die Gnade, eine Frage zu formulieren, die sich wenigstens nicht beantworten lässt. Nun gibt es hier aber keine Zeit und keinen Raum, sich abzukoppeln, hinzusetzen, das Gesicht in die Hände zu legen und zu heulen, weil ständig zu viel passiert. Es gibt kaum wirkliche Katharsismomente in der Musik, der Gesang ist dieses posthysterische, erschöpfte Restschreien, das zeigt, dass noch lange nicht alles zu Ende ist. Also weitermachen, in Bewegung bleiben, das Schlimmste verhindern, bevor man sich seiner eigenen Angst gewahr wird.

Hier kann man kaum einen Schritt zur Seite tun aus dem Zusammenhang, in den man eingespannt ist. Jordan Dreyer versucht es durch die auktoriale Erzählperspektive. (Auf-)Schreiben führt zu Bewusstwerden, Bewusstwerden zu Erkenntnis. Schreiben lässt hier etwas zu Kunst und Wahrheit werden, Schreiben schlägt die Wahrheit aus dem Stein. Dreyer berichtet über das Schreiben, die Reflektion und die Innenperspektive in den zwischen die anderen Songs eingestreuten Monologen, verliert dabei den vermeintlichen Punkt aus den Augen, vergisst Empfänger, seine Absichten, sich selbst. Nichts ist hier sicher vor dem ätzenden Zweifel, Dreyer löscht schreibend Grand Rapids, die Welt und sich selbst aus, ohne sie zu hassen. Das Gelingen dieses Unterfangens ist nichts, was einen mit einem guten Gefühl hinterlässt, dafür aber mit dem Gefühl, gerade etwas tatsächlich Wichtiges gehört zu haben.

http://www.youtube.com/watch?v=ysqRwPfR5bs&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=U3i3n8ZTDsc&feature=related