Re: Top 50 Alben

Home Foren Maximum Metal Plattenladen Top 50 Alben Re: Top 50 Alben

#3396141  | PERMALINK

palez

Registriert seit: 04.01.2007

Beiträge: 10,795

13. Converge – Jane Doe

I want out
Out of the burdening nightsweats
Out of the rising seas of blood
Lost in you like saturday nights
Searching the streets with bedroom eyes
Just dying to be saved
Run on girl, run on

Jeder Musiknerd wird dieses ganz spezielle Gefühl kennen. Das Gefühl, welches ein musikalischer Orkan beim ersten Mal hören hinterlässt, wenn vielleicht ein einziger Song die eigenen musikalischen Ideale nicht nur infrage stellt, sondern sie schlichtweg pulverisiert und man sich um ein neues musikalisches Weltbild kümmern muss. Der Grund, weshalb man überhaupt zum Musiknerd geworden ist. Das vielleicht einschneidendste Erlebnis dieser Art war für mich meine erste Begegnung mit Converge.

In irgendeinem Forum wurde diese Band also mit großen Worten umworben, ich hörte rein aus Interesse mal rein und war regelrecht fassungslos. Es lief „The Broken Vow“ und mir kam es vor, als stünde ich unter einem Glassplitterhagel. Der erste Schock ob dieser schieren Gewalt war kaum überwunden, da drängte sich Klargesang in die Szenerie; eine unheimliche emotionale Wucht. Ein infernales Chaos mit kaum greifbarer Struktur, das ich jedoch nicht bloß als solches wahrnahm; nein, „The Broken Vow“ war viel mehr, war der Beginn einer großen Liebe. Die Faszinationskraft dieser Musik war nach dem ersten Durchgang von „Jane Doe“ enorm und hat auch nach Jahren nicht abgenommen. Converge spielen eine Art modernen, chaotischen Noisecore und klingen doch anders als das, was man sich darunter vorstellt. Die Musik ist für sich genommen absolut erstklassig, doch sollte und darf man „Jane Doe“ nicht mit einer solch pragmatischen Herangehensweise begegnen. Die Drums überrennen sich selber, die Gitarrenfraktion spielt entstellte und vernarbte Riffs, Jacob Bannon kreischt seine poetischen Texte in einer Panik und Hysterie heraus, als stünde er in Flammen. Die großartige Produktion passt sich an: der Klang ist roh, lärmbetont, aber durchaus transparent. Die ersten drei Songs sind vertonte Zerstörung, ein erfrischender Blutregen, ein mit weit aufgerissenen Augen beobachteter und miterlebter Weltuntergang. Auch die musikalische Dampfwalze „Hell to Pay“ und das relativ punkig-straighte „Homewrecker“ atmen diese manische Energie. Es klingt nicht so, als hätten die Musiker noch unter Kontrolle, was sie hier entfesselt haben.

Doch damit wäre die Atmosphäre von „Jane Doe“ keinesfalls zureichend umrissen. Nicht aus dieser Offensivität schöpfen Converge ihre Faszinationskraft, sondern aus einer omnipräsenten, beinahe unerträglichen Ambivalenz. Die Stücke zersplittern und explodieren um ein Gerüst herum, das jeden Moment zusammenstürzen könnte, es manchmal auch tatsächlich tut; gerade in solchen Momenten, die auch in den ersten drei Stücken aufflackern, klingen Converge am erbarmungslosesten, wenn in „Heaven in Her Arms“ zum Beispiel subtil melancholische Melodien angedeutet werden. Wenn man die Fremde auf dem Cover ebenso erschöpft wie man selbst und zugleich vollstreckergleich sich vor einem aufbäumen und doch auch zersplittern sieht, wenn man ihren von oben herabschauenden Augen nicht standhält. Wenn sich nebst der vordergründigen Angriffslust auch Verwundbarkeit offenbart. Wenn man von der sich vor den eigenen Augen abspielenden Apokalypse weggezerrt und vor den persönlichen Untergang geworfen wird. Wenn der Phoenix in Flight mit schmerzenden gebrochenen Flügeln taumelt und danach in Flammen aufgeht; wenn eben genannte, nicht einmal einminütige Eruption in ihrer Hysterie nicht den Boden unter den Füßen zu fassen bekommt. Und wenn sich im Scherbenhagel manchmal das Licht spiegelt, wenn der Sound von Converge plötzlich eine ausgefranste, gebeutelte, doch in ihren feinen, fragilen Grundzügen erkennbare Art von Anmut und Schönheit entwickelt. So geschehen vor allem im epochalen Titelstück. Nervenzerrende Schallwellen von Feedback hallen durch den Raum, irgendwo entfernt im Hintergrund: flehender Klargesang. Der Song stürzt, atmet schwer, sammelt seine Kräfte, bäumt sich wieder auf und setzt final zum großen Crescendo an. Das gesamte Gerüst stürzt ein, dieses Ende ist nun absolut. In den letzten Atemzügen dieser Welt greift ein blutiger Arm noch ein letztes Mal in die Leere, bevor der in sich zusammensinkende Berg aus Trümmern und Gliedmaßen, den Schreien Gepeinigter auch ihn unter sich begräbt. Ein finales verzweifeltes „Wieso?!“ schallt noch über die Szenerie und bleibt unbeantwortet. Auch nach Jahren durchfährt mich „Jane Doe“ immer noch regelrecht. Converge klingen hier epischer und schöner, als es handelsübliche Brusthaartoupet-Metaller, Post Rock-Posterboys und Projekt-Darkwave-Waldelfen jemals könnten.

„Jane Doe“ ist keinesfalls ein Album für jede Lebenslage, in gewissen Momenten aber das einzige in meinem Universum. In Momenten, wenn es im eigenen Kopf grässlich eng und überfüllt und gleichzeitig erdrückend leer und einsam ist, wenn man sich vor Schmerz selbst nicht mehr fühlt, in Momenten, in denen man gegen die näherrückenden Wände des eigenen Bewusstseins hämmert, diese scheinbar durchbricht, die Augen öffnet und sich erschöpft, atemlos und mit blutigen Fäusten vorfindet, ist „Jane Doe“ das perfekte Ventil, die tongewordene Katharsis (es gibt für mich nur eine Band, die auf einem ähnlich hohen Intensitätslevel agiert und atmosphärisch, nicht jedoch musikalisch in eine ähnliche Kerbe schlägt, dazu später mehr). So sehr die Musik von Converge bei vielen zunächst auch bloße Hilflosigkeit provozieren mag, so sehr man im falschen Moment auch denkt, einer mit Grafitti beschmierten Wand gegenüberzustehen und auf dieser keinen Spruch und kein Bild mehr erkennen zu können, so sehr offenbaren sich im richtigen Moment die Geschichten und Hintergründe (kennt man hier das ARTE Tracks-Interview?). Die metaphorische Wand von Converge hat mehr zu sagen, als ich jemals über sie sagen können werde.