Re: Top 50 Alben

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palez

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12. Anathema – Alternative 4

We are just a moment in time,
A blink of an eye,
a dream for the blind

Anathemas musikalische Entwicklung verlief eigentlich recht kohärent und flüssig, einzig zwischen dem 1996er Werk „Eternity“ und dem zwei Jahre später erschienenen Nachfolger „Alternative 4“ gibt es einen wirklichen Bruch. „Alternative 4“ klingt im Grunde genommen wie die absolute Antithese zum Vorgänger. „Eternity“ war ein absolut typisches Übergangsalbum, unbequem sitzend zwischen dem Doom Metal früherer Tage und den sanfteren Klängen, die später den Sound bestimmen sollten. Bei „Alternative 4“ hatte die Band ihren Stil nun überraschend schnell gefunden, die Metamorphose von einer eher unscheinbaren Death Doom-Combo zu einer höchst eigenständigen Formation irgendwo in der Schnittmenge von Alternative- und Progressive Rock war nun endgültig vollzogen. Mit „Alternative 4“ haben Anathema ihren Stil definiert und perfektioniert (wenngleich sie diesen auf den Folgealben um einige feine Nuancen erweitern und weiterentwickeln konnten). „Eternity“ versank in Bombast, über den Stücken lag eine dicke Schicht Keyboard-Kleister (Hmm, das klingt jetzt eigentlich negativer, als es gemeint ist…ich schätze das Album sehr, keine Frage). „Alternative 4“ klingt im Vergleich dazu geradezu spartanisch.

Die Produktion ist glasklar und angenehm natürlich. Der Klang der Streicher und die perlenden Läufe des Klaviers (meist wird ein echtes Klavier eingesetzt, Keyboard relativ selten) haben einen nicht unwesentlichen Teil zur Atmosphäre beigetragen. Die Kompositionen sind durchdacht und feingliedrig, geradezu minimal arrangiert und haben nun viel Luft zum Atmen. Diese Reduktion aufs Nötigste war den Songs auf jeden Fall zuträglich; gerade die erwartungsvolle Stille zwischen den Klängen schafft eine ungeheure Dichte und lässt die musikalischen Akzente noch besser wirken. Selbst in den stillsten, fragilsten und zartesten Momenten sind die Stücke noch sehr spannungsreich, einzig „Fragile Dreams“ wirkt etwas lasch (wenn da mal keine Steine in meine Richtung fliegen, haha…). Neben der größeren kompositorischen Reife der Musiker hat sich vor allem Sänger Vincent Cavanagh um ein Vielfaches steigern können. Schöpfte er früher seinen Charme und sein Charisma aus einer latenten Unbeholfenheit und Imperfektion seines Vortrags, so ist seine stimmliche Beherrschung hier geradezu beängstigend. Doch einen wirklich guten Sänger macht keine technische Perfektion, sondern die emotionale Ausdrucksstärke aus – auch da konnte Vincent Cavanagh bemerkenswert nachlegen. Man wäre versucht, die Texte als überzogen oder gar kitschig zu bezeichnen, wären sie nicht von einer Band wie Anathema in Szene gesetzt und vor allem einem Sänger wie Vincent Cavanagh intoniert worden. Jede einzelne Zeile klingt wie immer wieder gefühlt, durchlebt und durchlitten, jede Phrasierung, jeder Schrei, Seufzer und Atemzug klingt so ehrlich und glaubwürdig, dass es fast schon unangenehm wird. Für eine solche schlichtweg brillante Performance wäre kein Grammy, sondern eigentlich ein Oscar fällig. Mindestens. Und dann treffen die Lyrics in Verbindung mit der Musik so gnadenlos, gezielt und präzise jedes Mal diesen einen wunden Punkt, wo es am meisten schmerzt. Jemanden, der zumindest ansatzweise nachvollziehen kann und vielleicht auch selbst durchlebt hat, was hier vertont wurde, können Melancholie-erfüllte, tränenerstickte Glanztaten wie „Shroud of False“ und „Lost Control“ unmöglich kalt lassen.

Für diese Stimmung zeigt sich vor allem der damalige Bassist Douglas Patterson verantwortlich, sechs der zehn Songs gehen auf sein Konto. Nach den Aufnahmen zu „Alternative 4“ stieg er aus und hob sein Projekt Antimatter aus der Taufe, wenn man so will, ist dieses Album also sein Abschied von Anathema. Der wohl eindrucksvollste Song aus seiner Feder ist der Titeltrack des Albums. Der Titel „Alternative 4“ bezieht sich auf das Buch „Alternative 3“ von Leslie Watkins; angesichts einer globalen Katastrophe (Atomkrieg) werden der Menschheit drei Möglichkeiten zu überleben geboten. Hinter „Alternative 4“ steht Pattersons eigener Gedankengang: es gibt keine Überlebensmöglichkeit. Die Vertonung der Endzeit, der letzten Minuten vor dem Untergang, ist hier auf beispiellos beklemmende und fesselnde Art gelungen. Schwebende, hohe Keyboards durchziehen das Stück, die lauten Drums und die Gitarrenakzente sind sparsam eingesetzt und genau deshalb so schmerzend. Drehschrauben-Spannung, die Ihresgleichen sucht. Der Gesang ist gezeichnet von einem kontrollierten Zorn, die Worte hängen schwer, geradezu erstickend in der Luft. In der dritten Strophe setzen das Drumming, die Gitarren und das Klavier aus, einzig das Flirren des Keyboards und der Gesang sind noch da. I’ll dance with angels to celebrate the holocaust, and far beyond my far gone pride is knowing that we’ll soon be gone – knowing that I’ll soon be gone. Cavanaghs Ausdruck ist jenseits von Angst, Verzweiflung und Hysterie; nur noch gezeichnet von dem Wissen, dass die Welt bald untergehen wird und er mit ihr, und der starren Akzeptanz des Unvermeidlichen. „Knowing that I’ll soon be gone“. Symbolische letzte Worte. Es folgt eine ungeheuer qualvolle Steigerung, die Anspannung wird geradezu unerträglich. Das Fieseste und Schlimmste an „Alternative 4“ ist der unerwartete Fade-out und dass der Hörer nicht mit dem sich ankündigenden Ausbruch erlöst wird.

Nach diesem Preludium zur Apokalypse zieht einen das folgende „Regret“ wieder ins Leben, obgleich der Grundton eindeutig pessimistisch bleibt. Das Stück wird von Akustikgitarren geprägt, es baut sich auf und ebbt wieder ab, vor allem ist es trotz seiner Nachdenklichkeit und Melancholie aber sehr kraftvoll. Es liegt vielleicht auch am Einsatz der Hammond-Orgel, aber hier wird auch der große Einfluss von Pink Floyd besonders deutlich. Es haben sich gewiss schon viele daran versucht, doch kaum einer, eigentlich keiner weiteren Band ist es bis dato so gut gelungen, dieses spezielle Feeling zu transportieren, welches die besten Songs späterer Veröffentlichungen von Floyd auszeichnete.

Das kompositorische Niveau ist hier (fast) durchgängig so hoch wie auf eigentlich keiner weiteren Veröffentlichung von Anathema, doch einen Song möchte ich noch ganz besonders hervorheben: „Re-Connect“. Die gesamte Band incl. Sänger steigt sofort ein, man glaubt zunächst, es hier mit einem recht gradlinigen Rocksong zu tun zu haben. Kaum ist die Strophe zu Ende, ebbt das Stück ab, Vincent seufzt, als richte er sich direkt an den Hörer: I could never turn to you, I was silenced by the look in your eyes, I feel I’m slipping back again. Erneut nimmt das Stück eine Wendung, die Handbremse wird gelöst, der Song baut sich zu erstaunlicher Größe auf. Die Dualität zwischen der puren Zerbrechlichkeit und Schönheit des Gesangs und der wachsenden Kraft und Aggression im instrumentalen Bereich ist in ihrer schieren Intensität kaum auszuhalten. Irgendwann haben die Musiker selbst diese Energie nicht mehr unter Kontrolle, die Drums überrollen sich selber, „Re-Connect“ steigert sich zu einem emotionalen Orkan. Come on and twist that knife again, well I’d like to see you fucking try, never going back again. Der Song stürzt von da an in einer Spirale unaufhaltsam in den Abgrund. Die Essenz einer zerrütteten Beziehung, ein vielleicht jahrelanger Kampf, komprimiert auf nicht einmal vier Minuten. Der vielleicht beste Song, den Anathema je geschrieben haben.

Visions from a dying brain,
I hope you don’t understand.

Morgen gibt es übrigens zwei alben (von der selben Band).