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palez

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8. Dead Can Dance – Within the Realm of a Dying Sun

We scaled the face of reason
To find at least one sign
That could reveal the true dimensions
Of life lest we forget

And maybe its easier to withdraw from life
With all of its misery and wretched lies
Away from harm

Eindringlich, fast schon drohend nähern sich zwei Glockenspieltöne, in ihrem Sound so kühl und absolut klar wie frisches Morgentau. Aus dem Hintergrund bahnt sich etwas Gewaltiges an, Timpani, Trombonen und Streicher bilden eine riesige Klangkuppel ohne Fundament. Allmählich baut sich das Stück zu solch einer Größe auf, dass die Wucht des eigentlich unvermeidlich scheinenden Crescendos kaum vorstellbar ist, doch unvermittelt folgt dem eine Wendung. Das Glockenspiel bildet die rhythmische Konstante dieser körperlos schwebenden, geisterhaften, kaum greifbaren Musik. Der edle Bariton von Brendan Perry lädt zum philosophisch-spirituellen Gespräch. In our vain pursuit of life for ones own end, will this crooked path ever cease to end?

Bäche fließen, ihr leises Rauschen vermischt sich mit Naturgeräuschen und dem klammen Wind. Das kleine Orchester im Rücken von Dead Can Dance zeichnet eine Kulisse, deren Gesamtheit in ihrer völligen, schillernden Harmonie beeindruckt, bei der aber genügend Raum für die Wirkung jedes einzelnen Pinselstrichs gelassen wurde. Bald gesellt sich die erzählende Stimme Perrys wieder zu den Instrumenten, die klangvolle Lyrik lässt viel vermuten, ohne konkrete Antworten zu liefern.

Frauenchoräle setzen ein, dazwischen effektive, erwartungsvolle Stille. Ein spinettartiges Instrument bildet den Rhythmus, erneut erhebt sich der Gesang Perrys über die Szenerie. Ein dicht verwobener orchestraler Klangteppich bildet sich im Hintergrund von Engelstrompeten, dem immer noch präsenten Spinettklimpern und dem Gesang. Perry intoniert Melodien von einer weltumgreifenden Größe, von einer klassischen Epik und Tiefe, dass man anfangs auch nur eben diesen folgen kann. Ein sakraler Kathedralensound, der zwar jeglicher Haftung am Irdischen längst entsagt hat, dabei aber absolut einladend und vertraut wirkt. Nicht zu Unrecht ist „Xavier“ eines der bekanntesten Stücke von Dead Can Dance, so eindrucksvoll und einnehmend wird die erste Hälfte von „Within the Realm of a Dying Sun“ beendet.

Mit bombastischen Bläserfanfaren und dramatischen Armageddon-Pauken wird man im spannungsreichen Interludium „Dawn oft he Iconoclast“ auf Lisa Gerrard vorbereitet. Plötzlich ist es fast gänzlich still, Zeit für ihren großen Auftritt; große, erhabene Wellen schallen über die Umgebung, vielleicht von Schamanengesang und Fernost inspiriert, onomatopoetische, voluminöse, klare Gesangslinien. Das folgende „Cantara“ braucht zunächst eine Zeit der meditativen Idylle, einen gewissen „Anlauf“, um sich aufbauen zu können. Plötzlich entwächst aus der Ruhe ein treibender Rhythmus, umspielt von den ebenso hypnotisch-rhythmischen Klängen eines exotischen Tasteninstruments. Ein hoher, abermals onomatopoetischer Gesang, so ungewohnt und fremd, dass er kaum noch menschlich wirkt, bahnt sich seinen Weg ins Geschehen. Lisa Gerrard ist eine der wenigen Sängerinnen, bei denen es mir auch nach Jahren noch schwer fällt, ihren Gesang mit einem Charakteristikum zu umschreiben. Zu weit ist ihr stimmlicher Umfang, zu groß ihre Bandbreite, zu divers ihr Vortrag – wenn ich eine Sängerin mit Lisa Gerrard vergleiche, so ist dies einzig auf das Facettenreichtum und die Wandlungsfähigkeit beider zurückzuführen. Streicher und Holzbläser wirbeln und schlängeln sich um das rhythmische Fundament, die perkussive Energie des Stücks steigert sich lawinenartig in seinem weiteren Verlauf. Über allem thronend sind hier wieder die spontan aus einer Emotion heraus geborene Phantasiesprache von Lisa Gerrard und ihr diesmal ungewöhnlich aggressiv anmutender Vortrag. „Summoning of the Muse“ setzt sofort und ohne Anlaufzeit ein mit einer gebirgsmassivgroßen, dichten sakralen Soundwand aus dramatischen Glocken, Streichern, Bläsern und Gerrards scheinbar von allen Seiten schallendem Engelsgesang. Man wähnt sich am Gipfel des Mount Everest, mit einer immer dünner werdenden Luft und einem atemberaubenden Ausblick. „Persephone (The Gathering of Flowers)“ mutet im Vergleich wesentlich stiller und unbewegter an und scheint sich eher aus der Tiefe zu erheben (auch durch Lisas hier sehr dunklen Gesang), steigert sich aber zu einem großen, nokturnalen Requiem.

Schon 1984, zu Zeiten ihres selbstbetitelten Debüts, waren Dead Can Dance besonders. Bereits damals zeichnete man sich durch Lisa Gerrards eigenständigen Gesangsstil und eine gewisse Spiritualität und Naturverbundenheit in der Atmosphäre aus. Das musikalische Fundament indes war für die Zeit gar nicht ungewöhnlich, der im Übrigen mit Vierspurgerät aufgenommene, gitarrenlastige Dark Wave des Debüts passte vorzüglich ins 4AD-Raster und war Brendan Perry und Lisa Gerrard, dem Kern von Dead Can Dance, bald nicht genug; das 1986er Zweitwerk „Spleen and Ideal“ lehnte sich mit klassisch anmutender Orchestrierung, fast völliger Abkehr von Rock-Strukturen und gelegentlich schon auftretenden Weltmusik-Einflüssen gefährlich weit aus dem Genre-Fenster. Das 1987 erschienene „Within The Realm of a Dying Sun“ war dann die (vorläufige) Formvollendung ihrer Vision. Kaum noch etwas, eigentlich nichts ließ auf zeitgenössische popmusikalische Strömungen schließen, grob (sehr grob!) umrissen handelt es sich bei WTROADS um eine Vermengung von Neoklassik, Mittelalter- und Ethno/Weltmusik. Das Zusammenwirken und das technische Geschick der Musiker sind hier so absolut konzentriert und makellos, wie ich es bisher auf eigentlich keinem weiteren Album vernommen habe.

Doch das soll keineswegs meinen, „Within The Realm of a Dying Sun“ wäre technisch orientierter, gar verkopfter Kunsthochschulen-Avantgardismus um seiner Selbst Willen. Die Musik von Dead Can Dance ist durchaus von beachtlicher Komplexität, gewährt durch die ständige Präsenz wunderbarster Harmonien und Melodiebögen aber sofort Zugang. Und so wichtig die Präzision in der Ausführung hier auch ist, die Musik lebt von ihrer über alles erhabenen Atmosphäre, von ihrer Seele; und diese ist nicht mal so ausdrücklich schwarz, wie oftmals dargestellt wird. Gewiss ist WTROADS kein unreflektiert lebensbejahendes Werk, keine gleißend helle Liebeserklärung an die Sonne, doch auch kein Suhlen in eigener Niedergeschlagenheit, nicht ausdrücklich negativ und in seiner Düsternis zumindest nicht ganz lichtundurchlässig. Die Herangehensweise von Dead Can Dance ist spätestens ab diesem Album zu weltoffen, weitsichtig und intelligent, um von der Bezeichnung „Gothic“ noch angemessen erfasst zu werden. Und obgleich DCD zumindest seinerzeit nicht oder nunmehr nur noch selten als „Gothic“ klassifiziert wurden, so übt neben „Spleen and Ideal“ vor allem auch das hier besprochene Album bis heute mit den größten Einfluss auf die Szene aus. Dieser trat mal mehr (so wie bei den quasi-Soundalikes Arcana und überhaupt weiten Teilen des neoklassischen Zweigs der Ethereal Wave-Szene), mal weniger deutlich (weite Teile der frühen Gothic Metal-Szene in den frühen bis mittleren 90ern, vor allem The Gathering und The 3rd and the Mortal) zu Tage, und auch weit außerhalb des Genreumfelds hat „Within The Realm of a Dying Sun“ im Speziellen und Dead Can Dance im Allgemeinen große Krater hinterlassen.

Einen großen Anteil an der Klasse von WTROADS trägt nicht zuletzt auch die Produktion. Auch nunmehr 22 Jahre nach Veröffentlichung ist diese in Sachen Transparenz und gleichzeitiger Breitwandästhetik, Dichte, Wucht und perfekt ausbalancierter Differenziertheit ungeschlagen.
Die Gesamtheit aus fantastischem Sound/fantastischer Produktion, grandiosen Orchesterarrangements und ebensolcher stimmlicher Leistung und das brillante, jederzeit enorm gefühlvolle Songwriting machen „Within The Realm of a Dying Sun“ für mich zu dem mit erhabensten, anmutigsten, der Perfektion nächsten Album, das ich kenne.

Morgen wieder zwei Reh-Wüüs.