Re: Top 50 Alben

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palez

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7. Lycia – A Day In The Stark Corner

(Erst Album hören, dann Review lesen. Und ja, es geht, wenn man so will, tatsächlich nur in den letzten zwei Abschnitten um die Musik an sich, haha.)

Die Luft war merkwürdig feucht. Er schaute aus dem Fenster. Warum hatte er ihr Foto nicht schon längst weggeschmissen, dachte er sich, wieso belastete ihn immer noch ihr Anblick an der Wand, wieso war er auch jetzt nicht völlig allein? Es könnte daran liegen, dass er sie noch liebte, es könnte auch an seiner bloßen Motivationslosigkeit und Lethargie liegen, was sogar etwas wahrscheinlicher war, bei genauerer Betrachtung fand er beide Antwortmöglichkeiten unbefriedigend. Mit jedem Tag schienen die Wände dieses verdammten Hauses näher zu rücken, manchmal bildete er sich ein, es zu sehen. Er fasste sich, ging aus dem Haus, schloss die Tür, befreite sich aus ihrer Umklammerung. Diese Landstraße sah so verwahrlost und vergessen aus, genau wie der ganze Ort, sein Kontakt zur Zivilisation und zur dichtbevölkerten nächsten Stadt hing am seidenen Faden. „Sie haben uns vergessen“, dachte er und korrigierte sich sogleich, „sie haben mich vergessen“. Es war früher Abend und der Himmel hing dunkelgrau und schwer über seinem schmerzenden Schädel. Es hatte sehr lange in dieser Gegend nicht mehr geregnet, bald würde es anfangen, er konnte sich kaum daran erinnern, wie Regen war. Einige hundert Meter ist er neben dieser Landstraße mit ihren verblichenen Konturen hergegangen, sein Haus noch deutlich im Blickfeld, wenn er sich umdrehte, und bog dann ab in Richtung des mit graubraunen Grasbüscheln bewachsenen Hügels. Hier konnte ihn nichts mehr halten. Zielstrebig und entschlossen ging er in die Leere, mit marschähnlich festem Gang.

Es war nun Nacht, zumindest später Abend, viel dunkler als zu seiner Aufbruchszeit. Er wusste nicht mehr, welche Kraft ihn dazu angetrieben hatte, zu gehen, sein Gang wurde etwas langsamer, doch geradezu willenlos ging er weiter. Er konnte theoretisch zurückkehren, obgleich das Haus und die Landstraße schon längst aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Der Hügel, den er bisher immer nur vom Weiten gesehen hat, war sehr viel größer, als er bisher angenommen hatte und schien immer größer zu werden, je höher er ging. Oben angekommen hielt er kurz inne und betrachtete die Landschaft. Er stieg hinunter. Unter einem Felsvorsprung setzte er sich hin. Die tonnenschweren tiefgrauen Wolken entluden sich nun im strömenden Regen und lautem Donner. Seine Lider schlossen sich.
Die Landschaft ist von einer solch scheinbar unendlichen Weite, dass man den Eindruck bekommt, sie erstrecke sich über den ganzen Erdball. Der bloße Anblick dieser kargen, leblosen Steinwüste zwingt einen zur Resignation und doch kann niemand ihre Schönheit leugnen. Es war Morgendämmerung, der Himmel klarte langsam auf. Die aufgehende Sonne ließ die Wolken in einem zart rötlichen Licht schimmern.

Er öffnete die Augen, wie er es immer tat, wenn die gnadenlos grelle Sonne ihm keine Ruhe ließ. Er stand nicht auf. Es war Morgen, es war leider schon wieder Morgen und ihm dämmerte, dass er wohl noch lebte. Wie viel Zeit seit seinem Aufbruch vergangen war, konnte er nicht einmal schätzen, zwischen wenigen Wochen und mehreren Jahren könnte es alles sein und er hatte nichts, woran sich seine Wahrnehmung festhalten könnte. Zu seinem Haus oder auch nur der Landstraße konnte er nicht mehr zurückkehren, er konnte sich nicht einmal mehr an sie erinnern. Nun beschloss er, doch aufzustehen, was ihm zunächst nicht gelang, sein Körper war wie versteinert. Unter furchtbaren Schmerzen konnte er die Starre überwinden, taumelte vorwärts, immer weiter, ohne zu wissen, ohne darüber auch nur darüber nachzudenken, wohin. Es gab kein Ziel und keinen Grund mehr, keinen Weg, keinen Anfang und kein Ende, keine Richtung.
Immer mehr fühlte er, wie feine Luftzüge ihn umspielten. Sie setzten sich immer mehr zu einem Bild, einem Wesen zusammen. Er konnte es nicht berühren, sofort rann die Erscheinung durch seine Finger, sie hielt sich nicht einmal dauerhaft in seiner Wahrnehmung. Die Winde umgaben ihn und zogen ihn mit sich. Er drehte sich im Kreis.
I don’t think about her anymore, I don’t think about her at all…
Er saß auf einem Felsen und beugte seinen Oberkörper nach vorne und wieder zurück, mantraartig diese Zeilen wiederholend. Die Erscheinung war weg, doch er immer noch nicht bei seinem Selbst. I don’t think about her at all…

Er lehnte an einem großen Felsen, in einer äußerst unkomfortablen Haltung, die seine Rückenschmerzen nur noch zusätzlich verstärkte. Sein Blick war vollkommen starr und leer. Die Wunden an seinem ausgemergelten Körper weiteten sich aus, entzündeten sich und schienen nicht zu verheilen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie es war, ohne Schmerzen zu leben, er konnte es sich nicht vorstellen. Er konnte sich nicht bewegen. We must not run, must not fight, we must stay here forever…
Im Traum sah er sie erstaunlich deutlich, auch ihr Gesicht, und es kam ihm sogar irgendwie bekannt vor.
Er öffnete die Augen. Es war wahnsinnig sinnlos und unvernünftig, die Augen zu öffnen, vor allem war es wahnsinnig sinnlos und unvernünftig, die Augen zu öffnen, wenn sich die Morgendämmerung nur schwächlich andeutete, doch er konnte es nicht verhindern. Es war sonderbar, doch angenehm kühl um diese Zeit, das hatte er vorher nie wahrgenommen, doch er genoss es schon beinahe. Wieder umgaben ihn diese Winde, wieder erschien diese Gestalt vor seinen Augen. Mit aufsteigendem Glücksgefühl und gleichzeitigem Entsetzen erkannte er ihr Gesicht. Die Welt um ihn herum wurde immer dunkler und trüber, während ihre Umrisse immer klarer wurden. Mit unsicheren Schritten bewegte er sich auf sie zu. Er stolperte.

Man kann bei „A Day In The Stark Corner“, dem zweiten offiziellen Album des amerikanischen Darkwave-Projekts Lycia, nicht wirklich von einem deutlichen musikalischen Umbruch sprechen, höchstens noch von einer Fokussierung. Wie schon bei „Ionia“ wird das musikalische Fundament von stoischen, monotonen, statischen Drumbeats, flächigen Keyboards und verspulten Gitarren mit dem Lycia-typischen Klang gebildet, manchmal huscht auch Mike VanPortfleets charakteristischer Flüstergesang durch die Szenerie. Ummantelt werden die Kompositionen auch wieder von einem damaligen Markenzeichen, dem LoFi-Sound. Doch gerade in dieser Hinsicht klingt ADITSC zwar oberflächlich ähnlich, in seiner Wirkung doch grundsätzlich anders als seine Vorgängerveröffentlichungen; mutete das Vierspur-Aufnahmegerät ehemals noch wie eine Begrenzung der Möglichkeiten an, so konnte VanPortfleet seine Eigenheiten und vermeintlichen Nachteile so nutzen, dass sie die erzielte Atmosphäre tragen und angemessen in Szene setzen konnten. Die Drums hallen aus weiter Ferne, die subtilen Harmonien und Melodien, die dröhnenden Untertöne vernebeln die Sinne und die Stimme scheint von allen Richtungen und aus dem Nirgendwo zu kommen. Selten verstand es jemand so gut, aus dem Gerät so viele Möglichkeiten herauszuholen, selten entwickelte ein eigentlich so karger und spartanischer Gesamtsound eine solche Größe und Tragweite, selten hat der Sound die Gesamtwirkung der Musik so unterstrichen und hervorgehoben; „A Day In The Stark Corner“ ist Breitwandminimalismus, ist Leere in Reinform, erlebt aus dem Blickwinkel eines Einzelnen.

Steht hinter dem marschähnlichen Rhythmus von „And Through The Smoke and Nails“ noch eine treibende Kraft, der Wunsch, der Isolation zu entfliehen, so findet man sich bald wieder in windzerklüfteter, desolater Leblosigkeit. Die völlige Freiheit wird von der absoluten Ausweglosigkeit, von der über die menschliche Vorstellungskraft hinausgehenden Weite der Wüste überschattet, von dem Gefühl, der einzige Mensch, eines der wenigen Lebewesen in dieser in sich geschlossenen Welt zu sein. Immer mehr wird die Psyche von diesem Bewusstsein zermahlen, bis man keine äußeren und irgendwann auch keine inneren Anhaltspunkte mehr hat, bis man Zeit und Richtung vergisst, bis man sich selbst nicht mehr findet. Der so einlullend und weich scheinende Ambient Wave-Sound lässt den Hörer aus seiner Umarmung fallen. „A Day In The Stark Corner“ ist keine Fantasiewelt, in die sich der Hörer flüchten kann, keine Note strahlt so etwas wie Pathos oder Romantik aus, das hier vertonte Leid hat nichts mit Ästhetik, Eskapismus oder Genuss zu tun, wie es im Gothic-Umfeld gemeinhin üblich ist, es eigentlich auszeichnet. Die Gefühle, die hier vertont werden, fressen sich tief und gnadenlos ins Innerste, sind unmittelbar und direkt, geradezu greifbar. „A Day In The Stark Corner“ wurde von Mike VanPortfleet (fast) im Alleingang komponiert, eingespielt und produziert – ein Umstand, den man dem Album in jeder Note anhört. Somit steht ADITSC eher in der Tradition von Werken wie „Closer“, „The Marble Index“ und gewissermaßen auch „Cop“, geht für mich vielleicht sogar noch einen Schritt weiter.
VanPortfleet ist mit diesem Werk die drastischste, radikalste, konsequenteste Vertonung von Tristesse, Leere und Isolation gelungen, die ich jemals gehört habe. „A Day In The Stark Corner“ klingt wie das letzte Album aller Zeiten vom letzten Menschen dieser Erde.

7. Lycia – Live

Live-Alben sind ja so eine Sache, in meiner Welt vor allem eine, die man nicht unbedingt braucht. Ähnlich wie Best Of-Compilations kranken Live-Tondokumente oftmals daran, dass die Songs aus dem Kontext herausgerissen, ihrer ursprünglich erzielten Atmosphäre beraubt wirken. Und selbst wenn nicht, selbst wenn es eines der Live-Alben ist, auf denen man die Tracklist eines Studiowerks 1:1 nachgespielt hat, so bleibt im Vergleich zur Studio-Aufnahme doch meist ein wichtiges Detail auf der Strecke: der Sound. Auch dieser gehört zum Gesamtwerk, auch dieser trägt manchmal einen hohen Anteil an der Gesamtatmosphäre, er ist manchmal ein detailverliebtes, feingliedriges Werk harter Arbeit, selbst der für entsprechende Verhältnisse beste Live-Sound ist insofern meist keine Verbesserung. Desweiteren ist es immer ein schwieriges Unterfangen, die Stimmung eines Live-Konzerts auf Konserve zu übertragen, welches in unschöner Regelmäßigkeit scheitert. Es gibt auch wirklich tolle Live-Alben wie „Earth Inferno“ von Fields of the Nephilim und „Toward the Within“ von Dead Can Dance (die beide nur knapp an meiner Top 46 gescheitert sind), bei denen die erwähnten Mankos vergleichsweise wenig ausgeprägt sind, doch kein weiteres Live-Album konnte meine Auffassung bisher so eindrucksvoll widerlegen wie „Live“ von Lycia.

Angefangen bei Sound: es dröhnt, rauscht und scheppert, es ist ein Gesamtsound, der eigentlich die meisten feinen Details unter sich begräbt – und schlichtweg das Beste, was der Musik von Lycia passieren konnte. Mike VanPortfleet konnte zwar auf „A Day In The Stark Corner“ mittels 4-Track-Aufnahmegerät einen weit hallenden, dabei seltsam gedämpften Klang erzeugen, der besser nicht zum Album hätte passen können, doch in diesem neuen Kontext profitieren Songs wie „The Body Electric“ und „Pygmallion“ vom tiefen Dröhnen, vom allgemein größeren Soundvolumen. Und während „The Facade Fades“ vom zu dem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten „The Burning Circle and Then Dust“ und „A Brief Glimpse“ vom 1991er Debütalbum „Ionia“ vom allzu weichen, sich wie eine Decke um die Songs legenden Gesamtsound der Wind aus den Segeln genommen wurde, legt man hier den Fokus eher auf den perkussiven Unterbau. Die Stücke entfalten sich in den hier vertretenen Versionen zu großen schwarzen Monumenten, einsam, kalt, abweisend, geheimnisvoll, gefährlich. Bands wie The Angelic Process und Nadja, die sich erst Jahre später gründen sollten, standen bzw. stehen der hier gebotenen Klangästhetik deutlich näher als Formationen wie Earth und Sunn O))).

Ferner ist Mike VanPortfleet und David Galas mit „Live“ das Kunststück gelungen, das Album eben nicht wie eine beliebig zusammengewürfelte Best Of erscheinen zu lassen, sondern die Stücke aus dem eigentlichen Kontext zu heben und ihnen einen neuen zu verleihen. Kein Live-Tondokument ist so in sich geschlossen, keins ist so sehr Gesamtkunstwerk wie das hier besprochene. „Pygmallion“ und „Fate“ entfalten sich in diesen Versionen zu Klangkathedralen von beeindruckender Größe und erstaunlicher Architektur. „Live“ ist interstellare, nachtschwarze, höchst faszinierende Musik zwischen Ambient, Dark Wave und Drone, so dunkel und erdrückend unüberblickbar wie der Weltraum, so romantisch und schön wie der Blick in einen klaren Nachthimmel.

Der zentrale Grund, weshalb „Live“ in dieser Liste auf einem so hohem Platz rangiert, ist jedoch das fast 20-minütige Mammut-Instrumental „The Last Thoughts Before Sleep (Sun Beats Hard)“.
Über gut drei Minuten erstrecken sich zunächst die Soundkollagen aus Rauschen und Störgeräuschen, bis der sich im ganzen Raum ausbreitende Hall des Drumcomputers und ein erstes tiefes Wummern der Gitarre einsetzen. Man legt immer mehr Soundtexturen übereinander, allmählich steigt immer mehr warme Luft auf, doch gibt es im Stück zunächst nur drohende Vorausahnungen wirklicher Bewegung. Ab ca. neun Minuten nehmen die Geräuschkulissen vom Anfang wieder kurzzeitig das Zepter in die Hand, bis unvermittelt wieder die Klänge des Drumcomputers dem Hörer entgegenschallen, nun lauter, schneller, vehementer. Wespenschwarmartig flirren die extrem effektgeladenen Gitarren mit den Synthesizern um das rhythmische Gerüst, die Luft wird dünner, die Bodenhaftung schwindet. Was ab ca. 13:00 passiert, ist nicht weniger als das musikalische Äquivalent zu einem Hurrikan, von einer mit sich reißenden Intensität, die einen atemlos zurücklässt, die Synthiewellen umspielen nunmehr nur noch das laute, hypnotische Wirbeln des Drumcomputers.

Lycia führten dieses Stück ein einziges Mal 1993 beim beautifulnoise-Festival auf, Mike VanPortfleet sagte in einem Interview, man habe „The Last Thoughts before Sleep (Sun Beats Hard)“ extra für diesen Zweck komponiert. Es ist für mich das Herzstück einer fantastischen Visitenkarte dieser großartigen und originellen Formation, ein Stück, das vom Anfang bis zum finalen minutenlangen Ausbluten absolut perfekt ist.