Re: Top 50 Alben

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palez

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2. The Angelic Process – Weighing Souls With Sand

Bei keinem anderen Album aus meiner Top 46 fiel es mir so schwer, was zu Papier (bzw. ins Word-Dokument) zu bringen, obgleich mir die Worte doch so zahlreich im Kopf rumschwirren. Einigermaßen sachliche musikalische Bewertungskriterien sind hier völlig unangebracht und werden dem Album genauso wenig gerecht, wie es ihnen gerecht wird; bei keinem anderen Album wird es dem unbedarften Leser vermutlich so schwer fallen, meine Begeisterung nachvollziehen zu können, da die Gründe so persönlich und vollends subjektiv sind (in ähnlichem Maße höchstens noch bei meiner Nr. 1), wie bei „Weighing Souls With Sand“, The Angelic Process‘ emotionaler Torture de Force von 2007.

Die Atemzüge werden allmählich ruhiger, langsam versucht sie, ihre fest zugekniffenen Augen wieder zu öffnen. Der Wind streicht ihr sanft durch die Haare und übers Gesicht; es ist eines der seltenen Male, dass sie das genießen kann. Die Welt spielt sich zunächst noch ab hinter einem schummrigen, warmen roten Schleier.

Aber dann: Übermächtige Kriegstrommeln setzen ein, von allen Seiten wird der Hall eines Klangs zurückgeworfen, der die Grenzen der menschlichen Fantasie übersteigt, ein rauschendes, doch strukturiertes Inferno. Die Augen werden weit aufgerissen, eine Schrecksekunde, als ob sich unter einem plötzlich eine Falltür öffnet. „Weighing Souls With Sand“ setzt mit seinem Konzept ungefähr da, vielleicht etwas später an, wo „Coma Waering“ vor vier Jahren noch aufgehört hat. Im thematischen Zentrum steht die Einsamkeit und Trauer der hinterbliebenen Witwe, ihr Leben, nachdem sie mit dem Tod ihres Ehemannes ihren einzigen Halt verloren hat, ihre Reaktion und Verarbeitung, hier in Form einer stetig in den Abgrund führenden Spirale. „Weighing Souls With Sand“ ist ein Album mit zahlreichen Lichtblicken, aber ohne wirkliche Hoffnung. Das Album lässt Verzweiflung beinahe schon körperlich spürbar werden, es erzählt eine unglaublich erschütternde und tragische Geschichte vom psychischen Zerfall; und das ziemlich wortkarg. Die Stücke sind teilweise onomatopoetisch gesungen, die Texte, falls es welche gibt, zu 99% unverständlich. The Angelic Process wählten die viel direktere Sprache der Töne und parallel dazu im Kopf entstehenden Bilder.

Die Gesichter der Unbekannten verbinden sich zu undefinierten flackernden Lichtern, ihre bloße Anwesenheit verursacht Atemnot und wirkt beengend. Die umgebende Welt, sie sieht sie in Schallgeschwindigkeit an sich vorbeiziehen, während ihr Bewusstsein im Stillstand verharrt. Ihr Körper funktioniert, aber fremd und kaum noch spürbar wirkt, der Boden unter ihren Füßen seine harte, verlässliche Stabilität verliert. Ihr Leben rinnt ihr durch die Finger. Sie wurde zurückgelassen; mit den Füßen im Herbstlaub scharrend, den Blick in die Leere gerichtet, still darauf wartend, dort etwas zu sehen, das ihr Orientierung geben könnte. „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

Die Musik von The Angelic Process klingt immer noch so (oder so ähnlich), wie sie vermutlich zahlreiche Bands bereits vor Augen hatten, oder es sich zumindest wünschten, letztendlich aber nie in dieser Form realisieren konnten. Die mit Cellobögen gespielten, übereinander geschichteten Gitarren klingen immer noch schwärzer als das tiefste Schwarz, die elysischen, sehnsuchtsvollen Melodien und die extrem verfremdete Stimme thronen immer noch über den Bergen aus Vulkan-Schwefelwolken, der Sound ist immer noch beinahe komplett undurchsichtig, aber beeindruckend massiv. Die einzelnen Elemente bauen auf einander und dem eigenen Hall auf, werden viel größer als die Summe ihrer Teile und brechen zusammen unter ihrer eigenen Last. Shoegaze 2.0. Drone Doom mal GANZ anders; „Weighing Souls With Sand“ nimmt all jenen den Wind aus den Segeln, die hinter dem kargen, finsteren Minimalismus von Bands wie Sunn O))) und frühen Earth keine durchdachte Komposition/Idee erkennen (möchten) und ihr Urteil dann auf das ganze Genre beziehen. The Angelic Process arbeiten mit gar nicht mal so ausdrücklich im Doom Metal verwurzeltem Drumming, zeitlich relativ kompakten Stücken, meist übergeordneten Melodien und vor allem sehr viel Dynamik.

In Sachen Songwriting hat man im Vergleich zum Vorgänger „Coma Waering“ einen neuen Level erreicht; waren die Stücke einst noch in relativ schlichten Strukturen verwurzelt, machte sich nach gewisser Zeit noch bei einigen Songs eine gewisse Berechenbarkeit bemerkbar, so sind die Kompositionen von „Weighing Souls With Sand“ wesentlich komplexer angelegt. Es steckt viel Detailarbeit hinter einem zunächst noch so groß und plump scheinenden musikalischen Monolithen, hinter Musik, deren höchste Ambition es scheinbar ist, den Hörer in ihrer unüberblickbar gewaltigen Ästhetik einfach zu plätten, ohne Fragen, Interpretationsansätze oder Widerworte zuzulassen, hinter Musik, die sich mit den hübschen beiden Wörtchen „Lärm“ und „Melodie“ doch offenbar so einfach erfassen lässt. Tatsächlich bezieht WSWS seinen Reiz vor allem aus dem, was hinter dem Offensichtlichen verborgen liegt; einer Filigranarbeit, Feingliedrigkeit und Subtilität sondergleichen, einer, die man diesem Monstrum nach den ersten Durchläufen gar nicht zugetraut hätte, die eine unheimliche Fragilität vermittelt und die „Weighing Souls With Sand“ die Chance gibt, sich stetig (bei mir nun unaufhaltsam seit über zwei Jahren) zu entwickeln und immer wieder neue Details und Nebenbedeutungen offenbart. Gerade „Dying In A-Minor“, der zitternde, schwache, gebrochene Ruhepol des Albums, aber auch „Burning In The Undertow of God“, ein brillantes Wechselbad der Gefühle, bestätigen, wie viel emotionale Ausdruckskraft hinter der Soundwand steckt.

In ihrem Zusammenwirken klingen der noisige Unterbau zwar wahnsinnig brutal, aber nie stumpf und die Melodiebögen episch und absolut ergreifend, aber nie auch nur annähernd kitschig. The Angelic Process spielen mit den Empfindungen des Hörers; die Musik stützt sich nicht auf eine klare Rollenverteilung, die wie vereinzelte, grelle Sonnenstrahlen durch das Dickicht aus Schwefel scheinenden Melodien und betörend harmonischen Momente sind eher noch zusätzlich folternd denn erlösend in ihrer Unerreichbarkeit. Ihre gewaltige Faszinationskraft bezieht die Band nicht aus dem Kontrast der beiden Elemente, sondern aus ihrer Verschmelzung.

Warmes Blut strömt ihre Wangen, Arme, Hände hinab, warmes Blut und Tränen. Immer mehr breiten sich das Fieber und die pochenden Kopfschmerzen aus, vernebeln die Sinne, schneiden die Gedankenströme ab, lassen im Wust von Abertausenden von flimmernden Wortfetzen nur noch eine vehemente, einsilbige Verneinung zu. Ein undurchsichtiges Zusammenspiel aus Glutrot und Schwarz, sie zittert, atmet schwer, beschleunigt ihren Schritt, rennt. Sie schlägt mit ihren Fäusten gegen die Wände ihres Bewusstseins, kratzt, zerbricht. Langsam, doch gnadenlos und unaufhaltsam kommen die Wände näher.

In den zwei Jahren, in denen ich die Band nun kenne, hat sich „Weighing Souls With Sand“ entwickelt, wie es eigentlich kein anderes Album vermochte; begonnen als eine angenehm besondere und originelle Randerscheinung im Wust neuer und älterer Veröffentlichungen, denen ich mich noch widmen wollte, übte das Album einen eigenartigen Reiz auf mich aus. Mit jedem Hören wurde ich mehr und mehr eingesogen, mit jedem Hören wuchs die Faszination, nach jedem Hören folgte der Trugschluss, ich hätte das Album nun verinnerlicht, jeden einzelnen Winkel kennengelernt. Mit der Zeit hat sich WSWS zu dem Album entwickelt, welches ich ohne schlechtes Gewissen und ohne jedes Zögern als das wohl beste des Jahrzehnts bezeichnen würde. Selten klang Musik derart erbarmungslos, gleichsam resignativ und aufbegehrend, in ihrer emotionalen Ausdruckskraft derart niederschmetternd und unmittelbar, selten hat mich ein Album dermaßen berührt und erschüttert, selten wurde ein solch überirdisch hoher Intensitätslevel so eindrucksvoll über die Spielzeit von ungefähr einer Stunde gehalten. Ich hätte dem ambitionierten Duo dabei sogar noch mehr zugetraut; letztes Jahr fand die Geschichte von The Angelic Process ein jähes, tragisches, angesichts des Albumkonzepts irgendwie morbides Ende. Nachdem seine gebrochene Hand nach einem Unfall nicht vollständig heilen konnte, weswegen er als Musiker wohl für immer stark eingeschränkt gewesen wäre, nahm sich der an Depressionen leidende Kris Angylus im April 2008 das Leben.

…nach dem hellen Aufleuchten und Brennen liegt noch Rauch in der Luft, der Wind trägt die Asche hinfort…

http://www.myspace.com/theangelicprocess