Re: Top 50 Alben

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palez

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TizDie Angelic Process will ich schon lange, nur findet man die leider gar nirgends mehr 🙁

Die „Coma Waering“ zumindest habe ich bei einigen Mailordern gesehen…

Surprise, surprise:

1. The God Machine – Scenes From the Second Storey

Bereits Mitte der 80er fand sich der Kern von The God Machine, damals noch unter dem Namen Society Line, zusammen, 1991 erfolgte die Umbenennung. Man brachte zunächst noch einige EPs raus, „Purity“, „The Desert Song“, „Ego“, denen 1993 schließlich das Debütalbum „Scenes From A Second Storey“ folgte. Schnell avancierte die Band zum Geheimtipp und Kritikerliebling vom Rock Hard bis zur Visions, als eine der Bands der 90er, die man zwar dem weitergefassten Alternative-Bereich zugeordnet hat, die man im weiten Spannungsfeld der Referenzen von Ministry über The Jesus and Mary Chain, von Warrior Soul und Jane’s Addiction über Neurosis (waren so die gängigsten Vergleiche…Fun Fact am Rande: beim ebenfalls 1993 erschienenen „Enemy Of The Sun“ von Neurosis verwendete man bei „Lost“ exakt das gleiche Sample aus „The Sheltering Sky“ wie bei „Dream Machine“) sah, die man aber nicht so recht in die Grunge-Schublade (und eigentlich auch sonst keine) stecken wollte. Es folgten Touren (vornehmlich in Großbritannien) mit unter anderem Nick Cave And The Bad Seeds, Cop Shoot Cop und Swans (man kann sich ausmalen, wie ich bei diesen utopischen Tourkonstellationen ob meiner späten Geburt in die Tischkante beiße…Narf!), die größte Chance auf einen nennenswerten kommerziellen Erfolg stellte wohl das Angebot, die Vorband für Soundgarden zu sein, dar, welches die Band allerdings nicht annahm. Das 1994er Zweitwerk „One Last Laugh In A Place Of Dying…“ wurde quasi posthum veröffentlicht, nachdem Bassist Jimmy Fernandez aufgrund eines Gehirntumors verstorben war. Sänger Robin Proper-Sheppard widmete sich fortan dem eher auf akustische Gitarren bedachten Singer-Songwriter-Projekt Sophia und dem Plattenlabel Flower Shop Recordings, Drummer Ron Austin drehte Filme. Mittlerweile sind alle Veröffentlichungen zu gesuchten Raritäten, die entsprechenden Verkäufern eine nette Rentenvorsorge garantieren, geworden, die Band hatte es indes nie über ihren Geheimtipp-Status hinausgeschafft.
Als man mit den Aufnahmen zu „Scenes From A Second Storey“ fertig war, war man sich vermutlich in keinster Weise darüber im Klaren, was man soeben erschaffen hat.

Schon bei den Kategorisierungsversuchen fangen die Probleme an: es gibt da die Riffs, die ohne eindeutige Black Sabbath-Reminiszenz den Doom Metal schrammen und aus heutiger Sicht vielleicht den modernen Sludge und Post-Metal vorweggenommen haben. Es gibt da auch sorgfältig aufgebaute Momente der Ruhe und beeindruckende kompositorische Freigeistigkeit. Über allen Stücken liegt zudem auch ein Schleier des Kryptischen, eine Art dunkler, ernsthafter, beinahe schon sakraler Pathos, der die Band in atmosphärischer Hinsicht manchmal Richtung Bauhaus (nicht umsonst hatte man auf der „Home“-EP deren „Double Dare“ gecovert), viel eher noch Richtung der etwas in Vergessenheit geratenen New Wave-Schauerromantiker und Dreampop-Vordenker The Chameleons und Sad Lovers And Giants rückt. Alles vom Winde davongetragene, lediglich erahnbare Spuren in der Wüste, die sich kaum zu ihrem Ursprung zurückverfolgen lassen, denn zitiert wird bei „Scenes From The Second Storey“ nie. Es ist vielleicht keine Musik, die mit jeder Note penetrant „Avant-Garde“ schreit und eben diesen Anspruch an sich selber stellt, jedoch Musik, bei der man bei Vergleichen und ausgelutschten Schlagwörtern ein schlechtes Gewissen bekommt, die mit jeder Note ihre ganz eigene, besondere Aura ausstrahlt. Die Songs funktionieren und entfalten sich im bandeigenen Mikrokosmos, den weder eine andere Formation, noch Robin Proper-Sheppard mit Sophia, noch The God Machine selbst in der Form reproduzieren konnten.

Das Fundament der meisten Stücke bildet eine Instrumentierung, die die Band zu dem Zeitpunkt verstärkt Richtung Metal rückte; Riffs, die unvermittelt schwarze Löcher in den Boden reißen, am eindrucksvollsten wohl in der zweiten Hälfte von „She Said“, Drumming, das in seiner monolithischen Schwere die Erde in zwei spaltet und somit durchaus eine entfernte Seelenverwandtschaft zu Godflesh und frühen Swans aufweist, jedoch im richtigen Moment auch lebendig und dynamisch zu klingen vermag, Bassspiel, das nicht nur im Hintergrund agieren darf und wunderbar prägnant klingt. Passend umrahmt von einem Sound, der wie die sich öffnenden Pforte zur Hölle klingt und in seinem weiten, ehrfurchterregenden Hall höchstens noch auf den ersten Songs der „Dirt“ von Alice in Chains in ähnlicher Form dargeboten wurde. You look to your sky and say how beautiful, and I look at my walls and scream let me out, and if your walls ever should come falling, I’d understand, yes i’d understand, because mine already has.
Die brachiale, oftmals völlig entfesselt auf den Hörer hinabhagelnde Härte ist hier jedoch nicht mit den testosterongeschwängerten Kraftakten vieler Kollegen zu vergleichen; viel eher ist sie Mittel, Verzweiflung und Wut zu kanalisieren, tief empfunden, glaubwürdig vermittelt, immer auf einem höchst ambivalentem und fragilem Gerüst fußend. Robin Proper-Sheppard ist halt auch einfach ein Mann, dem man ein „I’m tired of hiding“ jederzeit nachempfinden kann, bei dessen „Let me out!“ man unwillkürlich mitschreit. Es ist kein technisch außergewöhnlicher oder makelloser, leicht nasaler, aber unglaublich ausdrucksstarker Gesang, der auf den Stücken noch das zusätzliche i-Tüpfelchen darstellt. Bei dem zunächst sehr zurückgenommenen und von Akustikgitarren geprägten, dann schwer doommetallischen und schließlich in den Abgrund stürzenden „The Blind Man“ ist sein klagender Gesang von einer bis heute beispiellosen Eindringlichkeit. Have you ever held something beautiful knowing that it will eventually die? I’m tired of waiting. Treffer, versenkt. Das saß. Weltschmerz wurde vielleicht nie direkter und gleichzeitig unplakativer vertont.

Die musikalische Farbpalette und emotionale Ausdruckskraft von „Scenes From The Second Storey“ wäre damit aber nur unzureichend umrissen. Exemplarisch dafür steht „It’s All Over“ als Ruhepol des Albums. Hauchzart und so fragil, dass man sich kaum zu atmen traut, wird die Akustische gezupft, zieht sich eine unaufdringliche Bassline durch den Song, werden die Drums mit äußerster Behutsamkeit gespielt. Ohne Falltür, ohne Hintergedanken, ein vertonter Dachvorsprung bei strömendem Regen. And she said why do all the things have to change just when they mean the most.
Was SFTSS aber musikalisch ausmacht und sich wie ein roter Faden durch die ansonsten durchaus sehr unterschiedlichen Songs zieht, ist eine geradezu jungendlich-naive Experimentierfreude. Der Sound von The God Machine ist angelegt zwischen Alternative Rock und Grenzenlosigkeit; eine Herangehensweise, von der sich Robin Proper-Sheppard später distanzierte, welche er in aller Bescheidenheit als „sperrig“ bezeichnete, die dem Album allerdings ein Spannungsreichtum und eine Unberechenbarkeit verleiht, die jeden Durchgang äußerst mitreißend gestalten. Die Kompositionen befinden sich meist an der Klippe mit dem Blick zum Abgrund gewendet, manche gehen noch einen Schritt weiter; der instrumentale Noiserock-Rausch „Temptation“ zeigt, wie The God Machine aus einem einzelnen Rifffragment eine Welt in sich aufzubauen vermögen. „The Desert Song“ scheint nach einer herzzerreißend traurigen Melodie zu Beginn keinen Anfang und kein Ende mehr zu kennen; das monotone, unnachgiebige, rhythmisch ausgerichtete Bassspiel und Drumming geben eine halbwegs zusammenhaltende Struktur, darüber legen sich Schicht um Schicht Geräusche, Sprachsamples, Erinnerungen, Assoziationen, Trugbilder. Es ist quasi das musikalische Äquivalent dazu, desorientiert und von den flackernden nächtlichen Lichtern und vom unüberblickbaren Chaos eingeschüchtert durch eine Großstadt zu irren. Immer wieder taucht Robin Proper-Sheppards Stimme auf, doch man kann sie nicht lokalisieren. …And eight weeks later hands still reaching for something.

„Seven“, der mit 16:39 Minuten übrigens längste Song des Albums, fängt mit hallenden Drumtakten und einer von diesen in Stein gemeißelten Basslines an. Gesang und Gitarre setzen ein, das Stück richtet sich auf. Immer riesiger und unüberblickbarer wird es, „Seven“ wächst an zu einem beeindruckenden Gebirgsmassiv, dessen Gipfel eine delirierende, feedbackdurchsetzte, in Verbindung mit dem monumentalschweren Drumming absolut erhabene Gitarre bildet. Nach dem Aufstieg kommt das große Nichts; unbeirrt und variationsfrei spielt Ron Austin diesen hypnotischen Takt als einzige Konstante, als Skelett weiter, von dem sich mit dem weiteren Verlauf immer mehr das Fleisch löst. Von überall und nirgendwo kommt dann dieses „I don’t exist“, das zu dieser Kulisse wohl kaum besser hätte passen können, immer mehr driftet diese psychedelische Halbwegs-Melodie der Klarinette auseinander, bis auch von ihr nichts mehr übrig bleibt und das Stück sich final in einer absoluten Leere wiederfindet.

Das folgende „Purity“ mutet da wie das vollkommene Gegenteil seines Vorgängers an, so derart ernst und höchst konzentriert gespielt klingen die Streicher der ersten Hälfte. Sie dienen quasi als Prolog zum Album-Crescendo, zu einem von flirrenden Gitarren und sich in seiner Intensität stetig steigernden Drumming getriebenen, so euphorischen wie verzweifelten Höhepunkt, der zwar viele Fragen stellt, nicht mal ausdrücklich optimistisch gestimmt ist, und doch bewirkt, dass alles für einen kurzen Moment einen Sinn bekommt. Es ist wie das befreiende Schnappen nach Luft, nachdem der eigene Kopf fast länger unter Wasser gehalten wurde, als man es aushalten konnte. Ein Stück, dem die Bezeichnung „perfekt“ eigentlich nicht gerecht wird, wenn ich es mir recht überlege wahrscheinlich der beste Song, der jemals komponiert wurde. If I show you the truth will you show me the beauty, if I show you the pain will you show me the purity if I show you the scars will you show me yours, it’s the same all over, it’s the same all over, you were never there , you were never there.
Der abschließende Epilog „The Piano Song“ übernimmt dann die Aufgabe, den Kopf wieder unter die Wasseroberfläche zu drücken, eine Klaviermelodie, die nach den aufwühlenden, doch irgendwie versöhnlichen Tönen von „Purity“ ungleich niederschmetternder wirkt. The God Machine halten nichts von Happy Ends.

„Scenes From The Second Storey“ ist keines dieser „perfekten“, will meinen bis ins Detail durchkonstruierten Alben (was ich einigen Werken aus meiner Liste durchaus attestieren würde), um Gottes Willen. Es ist ein Album, dem man eine gewisse Spontaneität und Unbedarftheit anhört, so schwer einige Songs in ihren Thematiken und ihrem musikalischen Fundament auch wiegen mögen. Es ist auch kein Album von sonderlich großer historischer Bedeutung. Nicht nur im Bezug darauf, dass es wohl nur wenige TGM-Enthusiasten meines Schlages gibt, auch blieb der Sound von The God Machine bis heute nicht bloß unkopierbar, sondern auch (leider!) weitgehend unkopiert. Einige Bands transportierten danach (oder als einigermaßen hörbare Inspirationsquelle davor) noch den Geist von The God Machine oder ließen ihn zumindest in ihrer Herangehensweise erahnen, und doch gab es immer zentrale Unterschiede: Bands wie Swans, Converge, vor allem auch The Angelic Process tun weh; The God Machine tun nicht zu knapp auch weh, sie heilen aber auch Wunden. Musik ist Eskapismus, „Scenes From The Second Storey“ ist Leben. Musik für Heimat- und Rastlose, Musik für Suchende. Innerhalb der Grenzen des für Kunst Möglichen hat kein Album in seiner emotionalen Ausdruckskraft auf mich so direkt, so ehrlich, schlichtweg so menschlich gewirkt, von keinem anderen Album habe ich mich in der Weise vor den Abgrund geworfen, zerstört, wieder aufgebaut und schlichtweg so verstanden gefühlt. „Scenes From The Second Storey“ nimmt als musikalisches Nonplusultra nicht nur einen bis heute immensen Einfluss auf meine Hörgewohnheiten, es hat mich auch wie kein anderes Album als Persönlichkeit geprägt; auch weil es genau zum richtigen Zeitpunkt kam. Der beste Beweis dafür, dass Musik Leben retten kann und ein Album, das ich wohl noch mit ins Grab nehmen werde.

http://www.myspace.com/thegodmachine

Ach du Scheiße, ist das Review lang geworden.

Hier übrigens nochmal die Gesamtübersicht:

1. The God Machine – Scenes From a Second Storey
2. The Angelic Process – Weighing Souls With Sand
3. Weakling – Dead As Dreams
4. Swans – Children of God
5. PJ Harvey – To Bring You My Love
7. Lycia – Live
7. Lycia – A Day In The Stark Corner
8. Dead Can Dance – Within The Realm of a Dying Sun
9. The Angelic Process – Coma Waering
11. Joy Division – Closer
11. Joy Division – Unknown Pleasures
12. Anathema – Alternative 4
13. Converge – Jane Doe
14. The 3rd and the Mortal – Painting on Glass
15. Tool – Ænima
16. Fields of the Nephilim – Elizium
17. Alice In Chains – Dirt
18. Swans – Soundtracks for the Blind
19. Swans – Cop
20. Nick Cave and the Bad Seeds – Tender Prey
21. Einstürzende Neubauten – Haus der Lüge
22. Einstürzende Neubauten – 1/2 Mensch
23. Elend – The Umbersun
24. Elend – Les Ténèbres Du Dehors
25. The Gathering – How To Measure a Planet?
26. Katatonia – The Great Cold Distance
27. Depeche Mode – Songs of Faith and Devotion
28. New Model Army – Thunder and Consolation
29. Placebo – Without You I’m Nothing
30. Siouxsie and the Banshees – Peepshow
31. This Mortal Coil – Filigree and Shadow
32. Fear of God – Within the Veil
33. Nico – The Marble Index
34. Slowdive – Souvlaki
35. Tori Amos – Little Earthquakes
36. PJ Harvey – White Chalk
37. Wire – 154
38. Lycia – Cold
39. Anathema – The Silent Enigma
40. This Mortal Coil – It’ll End In Tears
41. Bauhaus – In The Flat Field
42. Cranes – Wings of Joy
43. Foetus – Nail
44. The Gault – Even As All Before Us
45. PJ Harvey – Rid of Me
46. Menace Ruine – The Die Is Cast

Püh. Fertig.

€: Nur 12 Albem vom letzten Mal dabei. Hoppla.