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Daray

Registriert seit: 18.04.2004

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Die Geschichte um den in der DDR geborenen Zwitter ohne jegliche böse Wesenszüge liest sich sehr einfach. Heute um 12 gekauft, mich insCafé gesetzt und um 17 Uhr waren die 400 Seiten durch.
Frau Berg hat ihrer Geschichte etwas mehr Intelligenz verpasst und den Zynismus, die Misanthropie und die Schärfe ganz allgemein etwas runtergeschraubt im Vergleich zu „Ein paar Menschen suchen das Glück und lachen sich tot“, „Sex 2“ oder auch „Ende gut“. Auffallend: es gibt keine Männer in dem Buch, diê in irgend einer Weise etwas anderes als schlecht wegkommen: Bullies, Feiglinge, Vergewaltiger en masse, Narzissten oder schlichtweg Arschlöcher. Wie gewohnt kommen auch die Frauen nicht viel besser weg, aber doch gibt es wenigstens einige neutral geschilderte Frauenfiguren im Roman.
Wie immer ist Frau Bergs Stil salopp ohne schlampig oder einfältig zu wirken, was ein hohes Lesetempo bei dennoch vorhandener Freude an der Sprache ermöglicht.

Ein kleiner Auszug:

Es war früher Abend, die Prostituierten stellten sich ein, am
baumlosen Straßenrand, sie musterten Toto mit professionellem
Interesse. Um sich zu stärken, das ist ja kein Spaziergang, so
ein Geschlechtsverkehr, kehrten die Freier in Bars ein, in Souterrains,
oder standen neben kleinen Kiosken, in deren Auslagen
geschnittenes Mischbrot lag und Makrele in Tomatensoße,
offenbar das Lieblingsessen von Prostituierten und ihren
Kunden. Die Wege voller Zigarettenstummel, Bierdosen, Trostlosigkeit,
das war zu viel Information, verwirrte den Kopf, der
war doch schon voll von Polizeisirenen, Betrunkenenlallen,
Musik aus Zuhälterautos und Touristenlauten. Die stolperten
kichernd aus Reisebussen, paarweise, sie trugen beige Partnerlook-
Trikotagen und würden richtig was erleben. Erst das Musical,
praktisch im Viertel gelegen, und dann, wenn wir schon
mal da sind, würden sie sagen und sich in der Gruppe Mut
machen.
Sie hatten Angst, die Bewohner des kapitalistischen
Landes, überall, wo sie nicht wohnten, und sie würden zusammenrücken,
lauter werden und eine Live-Show betreten. Die
Frauen würden schamhaft zu Boden blicken, Sex auf der Bühne,
also wirklich, sie zögen angewiderte Gesichter, weil sie meinten,
das erwartet man von rechtschaffenen Frauen. Zu laut würden
schlechte Scherze gemacht, und wie peinlich, Menschen
beobachten zu müssen, die in scheinbarem Selbstverständnis
geschlechtlich wurden. Und dann noch eins trinken, die Frauen
hakten die Männer unter, als sie an den Huren vorbeigingen,
das ist meiner, den hab ich inne, bin eine ehrbare Frau, durch
ihn, meinen Mann, die Heirat hat mich dazu gemacht, ich habe
ein Haus, ich verfüge über einen Esstisch !
Der Höhepunkt war eine durch Tore abgetrennte Straße, zu
der Touristinnen keinen Zutritt hatten, in der die Huren nackt
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in Schaufenstern saßen. Die Männer traten ein, feixend, sich
Mut machend, ihre Frauen warteten vor dem Eingang, selbstgefällig
verlegen. Es war ein großer Moment in ihrem kleinen
Dasein. Sie gehörten zu den Guten, den Normalen, sie sagten:
Mein Mann, und meinten: Ich bin auf der richtigen Seite. Heterosexuell
und in ordentlichen Verhältnissen, ich habe allgemeingültigen
Sex in der Missionarsstellung und wasche meine
Scheide im Anschluss. Da ist es doch egal, wie sehr sie leiden,
weil der Mann sich aufführt wie sein Vater und dessen Vater,
mit breiten Beinen sich im Schritt kratzend, neben das Klo pissend.
Sie haben alles richtig gemacht. Sie leiden. Mit Ablehnung
musterten sie Toto, der ihnen gegenüberstand, das war
eine Eigenschaft von ihm, das Stehen und Starren, bis er etwas
begriff. Die Frauen mochten ihn nicht, ohne sagen zu können,
warum. Er sah eben anders aus. Das langt. Sie waren ordentliche
Frauen, sie sahen nicht anders aus, sie ähnelten sich. Waren
unbestimmten Alters, sie hatten ihr Lebensziel erreicht, sie
waren Gattin. Die Haare grau, die Trikotagen bequem und
beige, das Gesicht ungeschminkt, der Körper vernachlässigt,
die Mitte unförmig. Fleischgewordener Trotz. Sie hatten verdammt
ihre Pflicht getan, waren nicht zum Spaß auf der Welt.
Sie waren Mütter.

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