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Durchaus spaßiges, originelles und wichtiges Album, wirkt in seiner Verbindung von Hardcore-Wut, schleppend doomigen Passagen, melancholisch-getragenen Keyboardflächen und schwarzem Humor heutzutage ziemlich antiquiert. Ist aber nicht so negativ gemeint sein, wie es sich vielleicht liest, hat ja durchaus seinen Charme.
Hier kommt die angekündigte Entführung:
Gothic im Allgemeinen und Ethereal Wave im Speziellen oder: die Revolution fraß ihre Kinder
Warnhinweis: dieses Resümee über das Geschehen in den 90ern trieft vor Subjektivität und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, weswegen Nörgelei seitens Szene-Koryphäen durchaus erwünscht ist; ich habe mit keinem Wort behauptet, sonderlich viel Ahnung zu haben.
Was Ende der 70er bereits in den Grundzügen erkennbar war und in den 80ern seine Blütezeit und kreative Höhepunkte erreichte, verblasste schon Anfang der 90er zunehmend: der klassische Gothic Rock mit direktem (Post-)Punk-Bezug kann heute, wenn man mal von einigen immer noch recht lebendig durch die Gegend schrammelnden Vertretern der Depro Punk-Welle (Die Art und Fliehende Stürme z.B.) absieht, getrost als ausgestorben angesehen werden. Naturgemäß hat sich die Bewegung weiterentwickelt und hat mittlerweile auch nicht mehr allzu viel mit dem zu tun, wofür sie noch in den 80ern stand. Finde ich persönlich ziemlich schade, dass das Potenzial der Post-Punk-Bewegung anscheinend bereits so schnell ausgeschöpft war und bin in dem Punkt auch gerne ewiggestrig, aber so ganz uninteressant waren die 90er in der Hinsicht dann doch nicht. Der Ethereal Wave (auch gerne liebevoll als Enya für Grufties bezeichnet) wurde kurzzeitig populär, viele interessante Impulse wurden gegeben und es wurden Grundsteine dafür gelegt, was mich an Gothic heutzutage doch ziemlich abtörnt. Dass ich mich hierbei nicht auch der Neuen Deutschen Todeskunst widme, hat übrigens durchaus seine
Gründe :-X. Heeeere we go:
Fields of the Nephilim – Elizium (1990)
Das dritte Album der Spaghettiwesternfans und Mehlstaubfetischisten stellt den vielleicht wichtigsten und drastischsten Schritt in der gesamten Laufbahn der Band dar. War bereits „The Nephilim“ gegenüber dem Debüt „Dawnrazor“ viel abwechslungsreicher und ausladender, was die Durchschnittslänge der Songs betrifft, wirft man im Hause FotN nun die songorientierte kompositorische Herangehensweise über Bord, an die man sich auf dem Vorgänger noch geklammert hat. Zwar gibt es durchaus noch einige rockig-kurze Stücke, sogar mehr als auf dem Vorgänger, doch diese verschwimmen in dunklen, schimmernden Aquarelltönen, nebliger Psychedelik und hypnotischer Monotonie. Es gibt eigentlich kein Stück, das außerhalb des Album-Kontextes funktioniert, hörbar von Pink Floyd inspiriert verfließen die Songs ineinander, ohne auf einen gekonnten dramatischen Moment zu verzichten; so finster und unheilvoll wie bei „At the Gates of Silent Memory“ klang die Band davor und danach nie. Ein eindrucksvoller künstlerischer Befreiungsschlag und mein wahrscheinlich liebstes Album von FotN. Vertonte Atmosphäre.
http://de.youtube.com/watch?v=_vhFGXa5i5U
http://de.youtube.com/watch?v=nUhfWbFIfI0
http://de.youtube.com/watch?v=NCMm1mJ3DRs
http://de.youtube.com/watch?v=QD1BL5Gab1M
http://de.youtube.com/watch?v=KmP1Hng5uZs
http://de.youtube.com/watch?v=LD1uDYgEcMM
Cranes – Wings of Joy (1991)
Dass ich das Album bei einem Gothic & Umfeld-Resümee erwähne, ist auf nichts anderes als auf meine Hilflosigkeit und die verstörend-dunkle Atmosphäre zurückzuführen und in die Kategorien Alternative Rock, Shoegaze/Dream Pop und …. wasweißich, Früchtekuchen lässt sich „Wings of Joy“ ebenso wenig zwängen. Die Mischung aus lärmigen, teilweise richtig sägenden Gitarren sowie der kindlich-verängstigten Stimme Alison Shaws kann getrost als einzigartig bezeichnet werden, zumindest fällt mir nichts annähernd Vergleichbares ein. In Kombination mit dem unheilsschwanger hallendem Piano bei „Living and Breathing“, eingeschlossen zwischen den Gitarrenwänden, den Drums und der Stille von „Starblood“, vor Leid beinahe zerfließend bei „Adoration“ – besonders im Kontrast zur von dunklen Soundteppichen und die Stille eindrucksvoll einreißenden Gitarren dominierten Musik strahlt Shaws Stimme eine solche Angst, Verlorenheit und Verzweiflung aus, dass es einem geradezu die Kehle zuschnürt. Die Band wurde auf den beiden (sehr guten übrigens, mehr kenne ich nicht von Cranes) Nachfolgealben wesentlich gemäßigter und hat auch vor Kurzem ein neues Album veröffentlicht, ihr offizielles Full Length-Debüt bleibt jedoch für mich unerreicht.
www.myspace.com/makerofheavenlytrousers („Living and Breathing, „Starblood“, „Hopes Are High“)
http://de.youtube.com/watch?v=QB0C5zM_g4Q
Love Spirals Downwards – Idylls (1992)
Wunderschöne Realitätsflucht. Das Debüt von Love Spirals Downwards setzt dort an, wo das offensichtliche musikalische Vorbild Cocteau Twins nicht ganz die Bodenhaftung verlieren will. Eine Kombination aus folkig anmutenden akustischen und verspulten Wave-Gitarren, dem Gesang von Suzanne Perry und einer gewissen Naturverbundenheit und Weltfremde bildet Songs, die in ihrer Fragilität nach nur einem leichten Lufthauch in sich zusammenfallen könnten und in ihrer Melancholie und Schönheit nie wieder erreicht wurden. Eine stille, unberührte, dem Albumtitel entsprechend idyllische kleine Welt und fast so etwas wie das Sinnbild von Ethereal Wave.
http://www.lastfm.de/music/Love+Spirals+Downwards/Idylls
Lycia – A Day in the Stark Corner (1992)
Das zweite offizielle Full Length-Album der amerikanischen Darkwave-Formation Lycia löst sich endgültig von dem Einfluss der Vorbilder (frühe Cocteau Twins und Joy Division), die auf früheren Veröffentlichungen auch nur in Versatzstücken erahnbar war. Aus teilweise Drone/Ambient-nahen Gitarren, hallenden, dominanten, statischen Drums, dem Flüstergesang Mike VanPortfleets und 4-Spur-Produktion (funktioniert sonst selten bis nie, auf ADITSC aber bestens) schuf man sich eine eigene kleine Nische, deren enge stilistische Grenzen zwar schon bald durchbrochen werden sollten, in der das Album aber bis heute relativ einzigartig und unerreicht geblieben ist. Seit „Closer“ von Joy Division habe ich keine solch drastische, konsequente, beeindruckende Vertonung von Isolation gehört. Der Hörer taumelt zwischen Ausweg- und Trostlosigkeit, Verlust des Bewusstseins, Psychosen und absoluter, bedrückender Leere Richtung Nirwana. Nach den letzen verklingenden Tönen der songgewordenen Fata Morgana „Daphne“ gibt es keine Hoffnung mehr. Nirgends.
http://www.lastfm.de/music/Lycia/A+Day+in+the+Stark+Corner
Miranda Sex Garden – Fairytales of Slavery (1994)
Nach dem ausschließlich aus traditionellen Madrigalen bestehendem „Madra“ und dem Zweitwerk „Suspiria“ haben sich Miranda Sex Garden bereits einen gewissermaßen hohen Status erspielt und befanden sich mit ihrem dritten Album „Fairytales of Slavery“ in einer recht bequemen Ausgangslage; so wurde die Band auf diesem Album von FM Einheit und Alexander Hacke (Einstürzende Neubauten) unterstützt. Gegenüber dem Vorgänger fällt sowohl ein stärkerer Rock-Einfluss und dominanteres Drumming, als auch eine noch größere Experimentierfreude auf. Für die Band ungewöhnlich gradlinige und eingängige Stücke wie „Peep Show“ stehen neben aus den Fugen geratenden Gesangsexperimenten und Brecht-Adaptionen. Dieses recht explosive Gemisch wird zusammengehalten von den sich Konzept-artig durch das Album ziehenden Grundthematiken Ängste und Vertrauen, Hass und Liebe, Freiheit und deren Verlust und der damit einhergehenden beklemmenden Atmosphäre. Mit „Fairytales of Slavery“ haben Miranda Sex Garden ihre experimentelle, immer mit einem gewissen künstlerischen Anspruch ausgestattete Mischung aus Madrigalgesängen und Eigeninterpretation von Gothic Rock perfektioniert, die mit „Suspiria“ in ihren Grundzügen definiert wurde. Die Einflüsse lassen sich nunmehr höchstens erahnen, nicht mehr eindeutig zum Ursprung zurückverfolgen. Die Band hat sich eine Nische geschaffen, innerhalb der sie nicht mit anderen Band vergleichbar ist, im Rahmen der jedoch genug Spielraum zur Weiterentwicklung und Veränderung bleibt.
http://www.lastfm.de/music/Miranda+Sex+Garden/Fairytales+Of+Slavery
Switchblade Symphony – Serpentine Gallery (1995)
Wenn ich es mir recht überlege, müsste ich das Album eigentlich hassen. Auftreten und Musik von Switchblade Symphony haben einen wichtigen Teil dazu beigetragen, dass ab dem Ende der 90er zunehmend rundgelutschter, stylisch angedunkelter Synth Pop (wahlweise mit oder ohne Stromgitarren) mit dem Begriff Gothic assoziiert wurde und vermutlich sind sie auch noch dafür verantwortlich, dass die arme Claudy666(6) erst eine Hamsterblut-, dann eine Alkoholvergiftung hatte. Was die Band in der Grauzone zwischen „toll“ und „peinlich“ auf diesem Album eher Richtung Ersteres tendieren lässt, ist zum einen die Musik selbst. Simple, jedoch nicht nervig-trivial wirkende Beats und elektronische Spielereien, verhaltene Gitarren, eingängige, die Fahrwässer von Dorfdisko-Penetranz à la The Birthday Massacre (trotzdem tolle Band *rötlich werd*) und Belanglosigkeit von The Crüxshadows geschickt umschiffende Melodien und die schöne Stimme von Tina Root bilden Songs, die sowohl modern klingen, als auch gewissermaßen musikalische Ansätze von Siouxsie and the Banshees weiterführen. Lange Zeit standen für mich die Songs im Schatten des hypnotischen, sinnlich-dunklen „Clown“ mittlerweile bin ich der Ansicht, dass das Niveau über die gesamte Spielzeit ziemlich gleich hoch bleibt. Zum anderen ist meine Sympathie auch auf die Attitüde des Duos zurückzuführen. Diese unterscheidet sich oberflächlich kaum von ähnlich gelagerten Gruppierungen, doch können Switchblade Symphony in ihrem Umgang mit Kitsch und ihrer überzogenen Selbstinszenierung Stil und eine gewisse ironische Distanz wahren, die sie deutlich von den Bands abhebt, die danach auf dem abgegrasten Terrain noch nach Verwertbarem suchten. Aber wie gesagt: eigentlich müsste ich das Album ja hassen…*Tässchen Tee trink*
http://de.youtube.com/watch?v=NNQ58zV-WkI
http://de.youtube.com/watch?v=8UYyhTVarMY
Black Tape For a Blue Girl – Remnants of a Deeper Purity (1996)
Neben 4AD gehörte das Label Projekt in den 90ern zu den wichtigsten Anlaufstellen, wenn es um Ethereal Wave ging. Stand das erstgenannte Label eher für Nähe zum Indie Rock und Shoegaze, verlagerte man sich bei Projekt eher auf Ambient-lastige Soundtexturen und tieftraurige Neoklassik, wie „Remnants of a Deeper Purity“, eine wichtigsten und bekanntesten Veröffentlichungen des Labels, eindrucksvoll zeigt. Black Tape for a Blue Girl lehnen sich auf ROADP in ähnlicher Weise aus dem Fenster des Dark Wave wie Dead Can Dance auf „Spleen and Ideal“ und „Within the Realm of a Dying Sun“; virtuos orchestriert werden Sehnsüchte und Gefühle zu Songs gewoben, kunstvoll, immer von einer gewissen Theatralik umgeben. Besonders der Sound der Violinen und Cellos klingt so glasklar, so herzzerreißend schön, wie ich es selten gehört habe. Auch die Vokalisten machen ihre Sache mehr als toll; man höre nur die ersten fünf Minuten des 26-minütigen „For You Will Burn Your Wings Upon The Sun“ und „With My Sorrows“. Zwar ist der bereits erwähnte Einfluss von Dead Can Dance beinahe omnipräsent, jedoch können Black Tape For a Blue Girl auf dieser Basis durchaus eine eigene Identität aufbauen. Wunderbar arrangierte, sphärische Wehmut und tolles Schlechtwetteralbum.
http://www.lastfm.de/music/Black+Tape+for+a+Blue+Girl/Remnants+of+a+Deeper+Purity
Elend – Les Ténèbres du Dehors (1996)
In jederlei Hinsicht ein Fortschritt gegenüber dem Debüt „Leçons de Ténèbres“. Vollerer, voluminöserer, dichterer Sound, ausladendere, ambitioniertere Songs, sogar in Punkto Atmosphäre ist auf dem Zweitwerk von Elend eine Steigerung gegenüber dem sehr guten Debüt zu vernehmen. Sich gigantisch auftürmender orchestraler Bombast wechselt sich ab mit ätherischer Schönheit und zartem Soprangesang, immer wieder wird der Hörer in den teilweise überlangen Symphonien durch Wechselbäder der Gefühle geworfen. Besonders der Death-/Black Metal-kompatible Gesangstil von Renaud Tschirner wirkt in dieser Klangkulisse aus Streichern, Keyboards, sakralen Chören und undurchdringlicher Finsternis absolut markerschütternd. Wenn eine bedrohliche Ruhe in ein Inferno aus Streichern und Keyoard-Flächen mündet, wenn die Stücke mehr und mehr in sich zusammenfallen und sich dann wieder aufbauen, dann verleiht gerade das Schreien Tschirners dieser beklemmenden, sinisteren, geradezu apokalyptischen Atmosphäre noch zusätzlich Nachdruck. Die Vertonung des Falls des Erzengels Luzifer ist Elend auf „Les Ténèbres du Dehors“ auf einzigartig intensive Weise gelungen. Sicherlich eines der düstersten Alben der 90er.
http://de.youtube.com/watch?v=kLbSPldxRuQ
Faith and the Muse – Annwyn, Beneath The Waves (1996)
Hervorgegangen aus den Formationen Shadow Project und Strange Boutique, bildete das amerikanische Duo Faith and the Muse eine der stilprägendsten, innovativsten und wichtigsten Gothic-Bands der 90er. Dieser Status ist auf alle drei ihrer in den 90ern veröffentlichten Alben zurückzuführen, vor allem aber auf ihr Zweitwerk „Annwyn, Beneath the Waves“. Die Mischung aus keltischem Folk, Mittelalter, modernem Gothic Rock und gelegentlichen, an die musikalische Vergangenheit von William Faith und Monica Richards erinnernden Deathrock-Gitarren klingt hier so ausgereift und beeindruckend opulent wie auf keinem ihrer Alben davor oder danach. Vor allem die ersten drei Stücke entführen schon mit den ersten Tönen und Richards’ angenehmem, charismatischem Gesang in eine (so kitschig es sich auch lesen mag…) alte, faszinierende Welt voller Mythen und Zauber. „Cantus“ ist mit seinen an Perfektion grenzenden Arrangements und seinem Bombast wahrscheinlich mein Lieblingssong der Band. Leider vermag man es nicht ganz, an das Niveu vom Titelstück des Albums, des rhythmisch treibenden „The Silver Circle“ und eben „Cantus“ anzuknüpfen. Des weiteren wirken die Deathrock-Gitarren bei manchen Stücken leicht verloren im pompösen Klanggebilde. Dies alles kann den sehr positiven Gesamteindruck nicht wirklich trüben.
http://de.youtube.com/watch?v=DyqF55pnjWc
http://de.youtube.com/watch?v=ZxOjM83NB64
http://de.youtube.com/watch?v=qxkhc0OW6Dc
Elend – The Umbersun (1998)
A shadow of horror is risen. Mit dem Abschluss des „Officium Tenebrarum“-Zyklus springen Elend noch mal souverän über die fast unmöglich zu überwindende Messlatte des Vorgängers. Wo es auf „Les Ténèbres du Dehors“ noch Verschnaufpausen, Momente, in denen Ruhe und Schönheit zumindest noch simuliert wurden, gab, lösen auf „The Umbersun“ auch die stilleren Momente eine unheimliche Beklemmung aus. Wo der Hörer auf dem Vorgänger auch im instrumentalen Inferno noch nach Melodie-Strohalmen greifen konnte, werden diese hier unter Kaskaden aus höllischer, ohrenbetäubender, perfekt arrangierter orchestraler Dissonanz begraben. Wo „Les Ténèbres du Dehors“ gefährlich nahe am Abgrund stand, geht „The Umbersun“ einen Schritt weiter. In seiner Radikalität, Gnadenlosigkeit, absolut lichtabsorbierenden Finsternis und seinem Ausloten von Grenzen ist „The Umbersun“ um Einiges extremer, brutaler, böser und intensiver als das Groß der Black Metal-Veröffentlichungen und lässt sich, wenn überhaupt, von der Wirkung und Herangehensweise her, höchstens mit den Frühwerken von Diamanda Galas vergleichen.
PS: selten hat ein Songtitel so gut zur Musik gepasst wie „Apocalypse“ *g*.
Nix gefunden. *gmpf*
PPS: Könnte jemand in dem Zusammenhang noch Bel Canto und Mors Syphilitica übernehmen? Sicherlich wichtig und erwähnenswert, da fehlt es mir aber an Kenntnis.
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trying to leave [COLOR=#808080]a mark more permanent than myself[/COLOR]