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Anacrusis – Screams and Whispers (1993)
Neben Grunge, dem exzessiven Betrachten vom eigenen Schuhwerk sowie dem kurzen kreativen Höhepunkt von Gothic Metal verbinde ich in musikalischer Hinsicht vor allem eines mit den 90ern: Unterschätzung, verpasste Gelegenheiten, vergessene und sträflichst vernachlässigte Perlen, vor allem im Rock- und Metal-Umfeld. Ich denke da an meine persönlichen Helden The God Machine, aber auch an die Hard Rock-Formation Warrior Soul, die es nie über den Status des Kritikerlieblings geschafft hat, an die Gothic Metal-Pioniere The 3rd and the Mortal, an die Crossover-Stoner-Doomster Acid Bath und Dark Millennium, deren zwischen Progressive Death/Doom Metal und Grenzenlosigkeit angelegte Alben ebenfalls bis heute (fast) nur Szenekennern ein Begriff sind. Anacrusis als St. Louis, Missouri lassen sich ebenfalls zwischen diese von der breiten Öffentlichkeit leider weitgehend übergangenen Bands einreihen. Mitte der 80er gegründet, erspielte sich die Band mit der Zeit einen szeneintern recht guten Ruf, tourte in den 90ern im Vorprogramm von beispielsweise Megadeth und Death und kam im Rahmen dessen das erste Mal nach Europa, verfeinerte jedoch auch immer weiter ihren Stil. Als der größere kommerzielle Erfolg und die Beachtung auf breiterer Ebene ausblieben, löste sich die Band nach „Screams and Whispers“ schließlich frustriert auf.
Was sofort als Erstes auffiel, war, dass Anacrusis unter die traditionell ziemlich suboptimalen Produktionen ihrer ersten drei Alben einen Schlussstrich gezogen haben. „Screams and Whispers“ besticht durch einen (im Vergleich zu den Vorgängerwerken) wesentlich druckvolleren Sound, klingt professioneller, mehr nach State of the Art. Und während die Bezeichnung „Thrash Metal“ schon bei „Manic Impressions“ nur die halbe Wahrheit war, ist sie bei „Screams and Whispers“, und da werden mir Genre-Puristen vermutlich vorbehaltlos zustimmen, sogar fast schon falsch. Ganz abgesehen davon, dass sie der stilistischen Breite, die die Band mittlerweile entwickelt hat, kaum gerecht wird; Anacrusis gestalten ihre Version von modernem, Thrash-beeinflusstem Metal durchaus anspruchsvoll und verhalten progressiv – von technisch orientierter Gehirnakrobatik der Marke Toxic und Watchtower ist die Band dennoch meilenweit entfernt. Die Songs folgen recht stringenten, meist sogar relativ schnell nachvollziehbaren Mustern, der Opener „Sound the Alarm“ sowie das von akustischen Gitarren getragene „Release“ gehen sogar als veritable Hits durch, neben der schnell erfüllten Pflicht erlaubt man sich aber auch die liebevoll ausgearbeitete Kür: technisches Hakenschlagen, jedoch immer der songdienlichen Art, messerscharfe Riffsalven und virtuose Gitarrensoli und Experimente, die man in dem Genre bis dato nicht gewohnt war. Nicht selten agiert das Keyboard als melodieführendes Instrument, beim Schlusstrack „Brotherhood?“ dominiert es sogar das Klangbild. Zudem hatten Anacrusis ein feines Gespür für Atmosphäre und Dramatik entwickelt, das sie von den meisten im Zusammenhang erwähnten Bands (wirklich ähnlich klang ja eigentlich keine…) abhob. Neben den Keyboards (fragt mich nicht, wie ich darauf komme, aber manchmal fühle ich mich sogar leicht an Killing Joke – Night Time erinnert…) zeigt sich vor allem Kenn Nardi dafür verantwortlich, durch seine tiefgründigen, intelligenten und emotionalen Texte, vor allem aber durch seinen sehr variablen Gesang. Nebst aggressivem Shouting und eigentümlich hohen Schreien (denen einen Black Metal-Bezug anzudichten, wäre nicht unbedingt fernliegend, aber recht gewagt) beherrscht er vor allem den Klargesang auf eine melodische, gefühlvolle, höchst eigenständige und vor allem perfekt zu den ebenfalls eher düster schattierten Kompositionen von Anacrusis passende Art und Weise. Würde ich, ohne zu zögern, als einen der besten Metal-Sänger überhaupt bezeichnen. Heute würde man das (wobei man sich da schon recht weit aus dem Fenster lehnen würde…) vielleicht sogar mit stilvollem Düsterzeugs der Marke Katatonia oder Ghost Brigade vergleichen, in einer härteren, Prog- und Thrash Metal-näheren Version…1993 hatte man diese Vergleichsmöglichkeiten allerdings nicht und war angesichts dieser Band, die auf ihrem vierten Album so bequem zwischen allen Stühlen saß, noch relativ ratlos.
Im Grunde genommen bin ich sogar etwas überrascht, dass es mit dem Erfolg auf größerer Ebene nicht wirklich etwas wurde, hatten Anacrusis auf „Screams and Whispers“ doch durchaus das Zeug dazu; Crossover-Potential sowie das Gespür für zwar alles andere als flache, sich aber schon nach kurzer Zeit in den Gehirnwindungen festsetzende Melodien war in Massen vorhanden. Vielleicht war man anno 1993 seiner Zeit einfach voraus, vielleicht fehlte der Band das rettende Bisschen Zeitgeist – wahrscheinlich war man viel eher ein Opfer blöder, widriger Umstände und schlichtweg Pech. IMO wirklich ausgesprochen schade, denn aus meiner Sicht haben Anacrusis mit „Screams and Whispers“ eines der originellsten, besten und rückblickend wegweisendsten Metal-Alben der 90er veröffentlicht.
Alle Alben und Demos, eine klanglich überarbeitete Version von „Manic Impressions, die Lala von Cruel April, einem aktuellen Kenn Nardi-Projekt, und wasnichtsonstnochalles kann man auf der offiziellen Band-Homepage übrigens gratis downloaden. Also, wie war das nochmal mit dem geschenkten Gaul…
Darf ich eigentlich bereits hier im Forum gepostete Reviews hierher verfrachten? Mir fehlen hier ein paar Alben…
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trying to leave [COLOR=#808080]a mark more permanent than myself[/COLOR]