Re: Der allgemeine Politikthread

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Novocaine

Registriert seit: 21.12.2007

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LeukonEs wäre ja viel gewonnen, wenn Leute wie du einmal begreifen würden, dass jede Form von Identität und Zusammenhalt etwas mit Begrenzung zu tun hat; dass also die von dir angegriffene Struktur nicht lediglich begrenzt, sondern dadurch etwas leistet. Ein jedes Wir setzt Andere voraus. “Dass eine Mutter ihr Kind vor allem liebt und ein Liebespaar eben nur seinen Partner, ist soziobiologisch ebenso sinnvoll wie gesellschaftlich‘‘ (Eibl-Eibesfeldt). Dieses ursprünglich familiale Ethos konnte durch die Idee der Nation zu jener landsmännischen Verbundenheit erweitert werden, die das Sozialkapital der erfolgreichen modernen Staaten ist: “People in all societies manage mutual regard for their families, and usually for their local communities, but the distinctive feature of the high-income societies is that mutual regard embraces a much larger group of people, namely fellow citizens‘‘ (Paul Collier).

Ein europäisches Gemeinschaftsprojekt kann niemals gegen die Völker funktionieren, sondern nur als Europa der Vaterländer einen Wert haben. Dass man als Nationalist immerzu die eigene Nation “oben anstellt“ (was das auch genau heißen mag), halte ich übrigens für ein Gerücht. Und ich sollte es wissen, aus naheliegenden Gründen.

Kurze Frage: Was meinst du mit Leuten wie mir? Klingt so, als wäre da eine konkretere Bezeichnung unterbunden worden.
Zum Thema: Natürlich ist Abgrenzung bei jeder Form kollektiver Identitäten gegeben. Woher glaubst du zu wissen, dass mir das nicht bewusst nicht? Soweit ich mich erinnere, habe dazu auch über Gewalt unter Fussballfans etwas geschrieben. Dass ich von Solidarisierung durch Nationalismus nichts schreibe, liegt einfach daran, dass diese Solidarisierung schon abgeschlossen ist. Ja, die heutige Gesellschaft ist durch ein Zusammenspiel von Nationalisierungs- und Industrialisierungsprozessen entstanden. Aber die starken Abgrenzungseffekte sind halt nach wie vor aktiv und nach den Konflikten des vergangenen Jahrhunderts, in welchen eben diese Abgrenzungen Gewaltakte legitimieren konnten, ist es meiner Auffassung nach berechtigt, diese infrage zu stellen.

Meine Behauptung, Nationalisten würden eben die Interessen der eigenen Nation oben anstellen, sehe ich nicht widerlegt. Ich rede hier nicht von Leuten, die es gut finden, wenn es Deutschland gut geht oder einem liberalen Nationalismus, sondern dem, der sich seit Ende des 19. Jahrhunderts festsetzte und zu zwei Weltkriegen geführt hat. Natürlich partizipiert ein Nationalist an anderen kollektiven Identitäten und kann andere Prioritäten haben. In Fragen, die die eigene Nation gegenüber anderen betreffen, wir er aber immer zuerst die vermeintlichen Interessen der eigenen Nation vertreten. Ob und wie dabei das Wohl anderer Nationen oder Staaten oder einem umfassenderen Kollektiv abschneidet, ist sekundär.
Es muss kein Europa gegen die „Völker“ sein, aber solange sich Bewohner der Mitgliedsstaaten als Konkurrenten oder Feinde wahrnehmen, und das tun sie nun mal aufgrund ihrer nationalistischen Entstehungsgeschichte, wird bei jeder Krise das Kartenhaus Europa kräftig wackeln. Nur falls es nicht ganz klar ist, natürlich gibt es auch zahllose Positionen innerhalb der Bevölkerungen, aber der Großteil sieht sich nun mal als Deutscher, Franzose, Spanier, Pole etc., wenn es um eine Europawahl geht.

Verärgerter_Bahnkunde
Gut, die Position ist vertretbar und ich kann das nachvollziehen. Aber TheRudeRod hat das ganz gut erkannt. Man muss zwischen diesem Bürokratie-Apparat auf der einen und dem geographischen und kulturellen Raum Europa auf der anderen Seite durchaus differenzieren.

Ich stelle mich über niemanden, bin aber nicht sicher, ob ein Portugiese, ein Niederländer, ein Brite und ich dieselben Vorstellungen haben. Weil sich über die Zeit eigene Identitäten der verschiedenen Nationen herausgebildet haben, die alle ihren Charme besitzen.

Und bevor völlig an den demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschieden (die da sind) vorbei oder darüber hinweg entschieden wird, nur um auf Biegen und Brechen einen Wirtschaftsraum zu definieren, bin ich dafür, es ganz sein zu lassen.

Ich bezweifle dabei einfach, dass man vernünftig alle unter einen Hut bringen kann. Dazu müsste man einiges aus den Köpfen der Menschen „entfernen“. Manche Denkweisen werden nie aussterben, so traurig das auch sein mag.

Da kann ich dir zustimmen. Das Problem ist nur, dass gegenwärtig kein Alternativprojekt zu erkennen ist. Die elendige Bürokratisierung hat da genug Unmut geweckt, zurecht. Vielleicht sollte man diesen Bau mal entschlacken und neu aushandeln.
Was aussterbende Denkweisen angeht: Heute glauben auch nicht mehr sehr viele (hier zumindest), dass das Führen eines Schwertes eine gottgewollte Ordnung aufrecht erhält und diese Vorstellung hat sich wesentlich länger gehalten.

totaldesaster_84^ Abgesehen davon, daß Nationalitäten meiner Meinung nach viel zu häufig, viel zu schnell und viel zu sehr überbewertet werden:

Ein „vereintes Europa“ muß letztlich ohnehin von den Menschen kommen.
Wenn diese nicht im Kleinen aufeinander zugehen und sich zusammentun, sondern alles nur von der hohen Politik entschieden wird, ist es immer nur eine von oben runter diktierte Sache.

Stimmt schon, aber viele Veränderungen wurden durch Abänderung von Strukturen durch Eliten geschaffen. Irgendwoher muss ein Anstoß kommen, die Form wird dann von den Beteiligten ausgehandelt.

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