Re: Eddies Plattenkiste: Millenium

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palez

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andysocialIch sag es mal gleich vorweg. Die Musik wird hier wohl nur eine sehr kleine Anzahl von Leuten ansprechen. Aber ich hole mal etwas aus…

Ich finde die geposteten Songabschnitte eigentlich recht schön…

Ich weiß, ich sollte, wenn überhaupt, dann eher die zahlreichen Sampler Reh-wüüven, die auf meiner Festplatte rumversauern, aber diese Band liegt mir aktuell sehr am Herzen:

Bei A Perfect Circle

…läuft man gleich zu Beginn Gefahr, beim Überfliegen der Beteiligtenliste, die sich wie das Who is Who der modernen/alternativen amerikanischen Rockszene – Billy Howerdel (Gitarrentechnicker für u.a. Tool, The Smashing Pumpkins), Maynard James Keenan (Tool), Josh Freeze (u.a. Nine Inch Nails), Troy Van Leeuwen (Failure) – liest, einen großen Fehler zu machen – die Band als Light-Version von Tool und Zeitvertreib von Maynard James Keenan zu betrachten. Die Mittel, das verwendete Instrumentarium, die eher düstere Grundstimmung, mögen gleich sein, tatsächlich ist Howerdel der eigentliche Kopf der Band und sein musikalisches Baby so weit von Tool entfernt, wie es die Möglichkeiten zulassen.

Wo Tool noch eine im (eigentlich nicht angebrachten) Vergleich zu zahlreichen anderen Prog-Bands zwar weniger selbstzweckmäßige, dennoch regelrecht mathematische Kopflastigkeit an den Tag legen und für ihre verwinkelte Soundarchitektur beeindruckende Spieltechnik, ausladende Songstrukturen und recht basische und reduzierte Instrumentierung aufwenden, klingen APC auf ihrem Debüt „Mer De Noms“ von 2000 vordergründig unkomplizierter, in der Produktion irgendwie futuristischer, vor allem aber wesentlich mehr nach „Bauchmusik“. Howerdel schneiderte den Stücken eine Produktion auf den Leib, die sich genauso genüsslich gegen alle Standards eines „natürlichen“ Klangs wendet wie der Surrealismus gegen den Naturalismus, die Details umhüllt, hinter Nebel verbirgt und überbetont, wie es ihr grade passt, und eine eigenartig einlullende, fremdartige künstliche Wärme ausstrahlt (Lehrbeispiel: „Thomas“). Keiner der Songs überschreitet die Fünf Minuten-Marke, meist folgen sie recht einfachen Strukturen, nahezu immer sind sie einschmeichelnd und hochmelodisch an ihrer glänzenden Oberfläche, wie ätherische Öle legen sie sich um die Sinne, ohne sich irgendwo unnötig zu verhaken oder auf Widerstand zu stoßen. A Perfect Circle schufen mit ihrem Debüt eine Version zeitgenössischer amerikanischer Rockmusik, die, obwohl hier nie auf Frauengesang zurückgegriffen wird, deutlich femininer ist, als man es von jener vielleicht erwarten würde, mystischer, viel anschmiegsamer und schlangenartiger. Zwischen biblischen Bezügen und erahnbarer SM-Ästhetik, Sinnlichkeit, Sehnsucht und leiser Verzweiflung befinden sich die Stücke; weisen bei „Judith“ und „Thinking of You“ schon mal eine Art von Härte auf, die einen zu dem eigentlich verbotenen Vergleich mit der Hauptband von Maynard James Keenan hinreißt, betören im hypnotisch pendelnden „Rose“ und dem fordernden „Magdalena“, klingen beim von wunderhübschen Streichern dominierten „3 Libras“ regelrecht zutraulich und bei den ebenfalls eher balladesken Stücken „Orestes“ und „Breña“ schlicht herzzerreißend schön.

Doch gerade bei „Orestes“, diesem so zärtlich gesungenen „keeping me from killing you“ offenbart sich, wie das Album eigentlich funktioniert; die Songs kommen dem Popformat näher, als es Tool jemals könnten, offerieren dabei aber eine bodenlose Tiefe und lichtabsorbierende Schwärze, in versteckten Ecken, die beim ersten flüchtigen Blick gar nicht sichtbar sind und Nebenbedeutungen, die zunächst gar nicht auffallen. Unter der schillernden Fassade lauern Abgründe, die einen zwar immer noch sanft in sich einschließen, aber nicht so einfach – zumindest nicht spurlos – wieder entlassen. „Judith“, die erste Single, ist von einem erstaunlich offensiven, in dieser Form auf dem Album ziemlich beispiellosen Zorn, „Thinking of You“ überbrückt die Zeitabstände zwischen dem Wiederholen des erlösenden Aufflammens des Refrains damit, sich selbst zu zersetzen, „Magdalena“ ist eigentlich schon weit über die Grenze von Hingabe zu Obsession hinaus. „Mer De Noms“ entfaltet sich im Gegensatz zu vielen anderen „sperrigen“ Alben ab dem Punkt, wenn einem die zuvor freundlich offengehaltene Tür plötzlich vor der Nase zugeschlagen wird. Nach dem Genuss kommt die Ratlosigkeit und Befremdung, mit ihr die Faszination. Wie war das nochmal mit „Tool light“?

http://www.youtube.com/watch?v=0VdnEQVBPIw
http://www.youtube.com/watch?v=vZajIU1K3dQ
http://www.youtube.com/watch?v=6XtG5SGL0Xw
http://www.youtube.com/watch?v=USK1ghU-XGw

Gerade das „light“ wird man bei „Thirteenth Step“, dem Nachfolgewerk von 2003, mit einem dicken Kloß im Hals streichen müssen.

Mit einer gehemmten, nervösen Gitarrenmelodie und Hämmern und Klopfen irgendwo im Hintergrund setzt „The Package“ ein. Unruhig spielt der Protagonist an seinem Hemdkragen rum, bemüht darum, die süffisanten Bemerkungen seines Gegenübers zu überhören, welches es sichtlich genießt, den Schweiß auf seiner Stirn perlen zu sehen. In ihm steigt die Ungeduld auf, er kramt hastig in seiner Tasche und legt ein zerknittertes Bündel Geld auf den Tisch. In gnadenloser und unnachgiebiger Langsamkeit bewegt sich der Sekundenzeiger; wieso muss es nur so lange dauern. Immer näher kommen indes die Drumschläge, zögern, werden wieder etwas lauter, während Maynard James Keenan sich scheinbar unter unterdrückten Schmerzen ein Wort nach dem anderen auswringt. Plötzlich, so nach gut vier Minuten: „Give it to me. Mine, mine, mine. Take what’s mine.“ Unter der tonnenschweren Last des Riffs brechen der Lautsprecher und der Song in sich zusammen. „Lie to get what I came for. Lie to get what I need now. Lie to get what I crave. Lie to smile and get what’s mine.“ Keine Selbstbeherrschung mehr, endgültiger Kollaps. Und das als Opener.
In diesen zittrigen, übervorsichtigen Gitarrentönen vom Anfang und Keenans geknurrtem „Mine…“ im Hintergrund kehrt der Song die Splitter zusammen, endet aufgewühlt und fast so, wie er angefangen hat.

„The Package“ ist dabei nur als Prolog zu einem Album zu verstehen, das sich zwar grundsätzlich halbwegs ähnlicher Mittel wie der drei Jahre zuvor erschienene Vorgänger bedient, mit seiner Atmosphäre aber radikal bricht. Das neue Tabu, was Vergleiche angeht, heißt nun nicht mehr „Tool“ sondern „Mer De Noms“. Man merkt, dass Keenan bei Songwriting und Produktion diesmal deutlich mehr Mitspracherecht hatte; anstatt seine Songs mit einem Klang zwischen fluoreszierender Zuckerwatte aus der Zukunft und Chromglanz zu umhüllen, reißt Howerdel die Soundschichten runter, bis nur noch das Nötigste übrigbleibt und die Musik über weite Strecken tatsächlich natürlich und nach Band klingt. Basserin Paz Lenchantin wurde gegen Jeordie White, besser bekannt als Twiggy Ramirez (Marilyn Manson), eingetauscht. Die schöne, ästhetische, romantische Leidenschaft des Debüts weicht hässlicher Besessenheit und Sucht, das genussvolle Suhlen und sich Verlieren in Melancholie blanker, ungeschönter Depression und Psychose. „Thirteenth Step“ ist so gesehen je nach Auslegung offensichtlicher, lässt den Hörer nicht in eine Falle tappen, will aber auch keineswegs als lautes oder aufdringliches Album verstanden werden; in dem Punkt Erwartung doch noch erfüllt.

Dabei klingt es in den folgenden drei Stücken doch zumindest theoretisch doch so vertraut. „Weak and Powerless“, die erste Single, die aus der Ferne betrachtet ein einigermaßen gradliniger Rocksong sein könnte, sich aber hermetisch abkapselt, deren Bass- und Drumspiel sich wahrscheinlich mit Absicht im Labyrinth verlaufen und bei der ein sich mit Mühe zusammenreißender Maynard James Keenan im Refrain sich schließlich doch seiner Verzweiflung und Schwäche ergibt – jedenfalls so weit, wie es der Song zulässt. Letztendlich fühlt man sich, als würden über den eigenen Körper gerade Hunderte von Insekten krabbeln. „Blue“, das in Melodieführung und Rhythmik wesentlich stringenter klingt, bei dessen grauenvoller, aus der Beobachterperspektive erzählter Geschichte man sich aber am liebsten genauso wegdrehen würde wie der Protagonist. „I just didn’t want to know…“ Und dessen verwunschener, gespenstischer Bass ohnehin seine ganz eigene Geschichte erzählt. Das tragische „The Noose“, das sich, als Album-Ballade und Moment verhältnismäßiger Klarheit getarnt, als das vertonte Begrabenwerden von Wellen und Hinabsinken auf den Meeresgrund entpuppt. Es hätte nach dem sich quer in den Magen legenden Einstieg eine halbwegs einfache Odyssee werden können. Doch auch in diesen Stücken kommen A Perfect Circle den schwärzesten Abgründen menschlicher Ausnahmezustände näher, als dem Hörer lieb ist, legen den Finger tiefer in die Wunde, als es für Sensibelchen wie mich möglicherweise angebracht ist – und doch, dieses schonungslos genaue Ausleuchten der Neurosen und Psychosen seines Hauptprotagonisten, die Beobachtungsgabe und gleichzeitig das bewusste Halten im Unklaren sind bemerkenswert. Eine fast unerträgliche Nähe. „Vanishing“ ist, als ob es allen nach ihm greifenden Sinnen, allen irdischen Zwängen entweichen wolle, verhuschte, schwebende Gitarre und Drumming, alles getränkt in blendend weißes Spätmorgenlicht, von weit her und allen Seiten zeigt sich die schwindsüchtige Stimme von Maynard James Keenan und verhallt wieder im Nichts – und bleibt doch bei allem angestrengten, flehenden „Disappear, disappear, higher, higher, into the air“, bei allem Hinausstrecken der Arme in die Luft wie fest im Boden verwurzelt, am Boden dieses weißen, leeren Raumes, ertränkt im ebenso weißen Licht. Der Wunsch, zu entfliehen, endet nach Besinnungslosigkeit und Traumzustand am Boden der Tatsachen. Fast. Szenewechsel. Im zarten „A Stranger“ und der nebulösen, entrückten Failure-Coverversion „The Nurse Who Loved Me“ gelingt es zumindest temporär, die Umwelt in trübes, warmes Licht gehüllt, den Boden unter den Füßen nicht mehr zu spüren, keinen Hauch von Bewegung.

Es dauert dabei aber auch durchaus nicht lange, bis man seine volle, unnachgiebige Härte fühlt, wenn man schließlich auf den Asphalt knallt. Das nicht eben subtil gehässige „The Outsider“ erinnert gar an „Hooker With A Penis“ von Tools Meisterstück „Aenima“ – ein Vergleich, den man noch beim Debüt mit aller Mühe zu entkräften versuchte, den sich der Song aber gefallen lassen muss, was die Band in dem Falle vielleicht sogar nicht mal mehr stört. „Pet“ verwendet bei aller Brachialität und dem genüsslichen Sägen an den Nervensträngen mit bewusster Atonalität weniger die Brechstange, viel eher die sich langsam um den Hals legenden kalten Hände, kostet seine Langsamkeit aus, explodiert nicht ganz im Refrain, fährt seinen Puls in den Strophen fast auf Null runter – und lässt den Hörer schließlich leblos zu seinen Füßen fallen, selbstgefällig hinabschauend. „Come back to sleep“

„Thirteenth Step“ ist ein kaputtes, kompliziertes, mit dem Wort „emotional“ noch sehr harmlos umschriebenes, (selbst-)zerstörerisches, brachiales, zerbrechliches und innerlich wie äußerlich zerrissenes Album. Schon allein von seiner Machart, dieser Herangehensweise her kann es unmöglich Perfektion erreichen. Es liegt in seiner Natur, ein unsympathisches Ekel zu sein, es liegt in seiner Natur, sich abzuriegeln und komplett zu verweigern, es liegt in seiner Natur, experimentelle Selbstgefälligkeiten wie „Lullaby“ zuzulassen, nur um den Hörer für einen kurzen Moment noch ein klein wenig mehr zu irritieren, es liegt in seiner Natur, nicht perfekt sein zu wollen. Wenn ich darüber nachdenke, weiß ich nicht, welches der von mir besprochenen APC-Alben ich für das bessere halte. Und ob mich Tool auf dieser sehr persönlichen Ebene jemals derart tief berührt haben.

An „Gravity“ liegt es, dem Album ein würdiges und angemessenes Ende zu bieten, das sich in so viele Richtungen noch hätte ausbreiten können. Ein Gefühl, als würde man halb bewusstlos knapp unter der Wasserfläche undeutliche Sonnenstrahlen wahrnehmen, fremde Arme tragen den Protagonisten – ich muss hier unbedingt noch erwähnen, dass es sich bei diesem Album meiner bescheidenen Meinung nach um die großartigste Gesangsleistung Maynard James Keenans handelt – nach oben. Ein zögerlicher, nicht tiefer erster Luftzug, ohnmächtig schaut er auf die sich immer weiter entfernende Bodenlosigkeit unter ihm zurück. „I choose to live.“ Hier nicht mal annähernd ein Happy End.

http://www.youtube.com/watch?v=pLB0srsOtfw
http://www.youtube.com/watch?v=BVXTmav24Wk
http://www.youtube.com/watch?v=wuwHlFikmTs
http://www.youtube.com/watch?v=lrEP3RPgEao