Re: Eddies Plattenkiste: Millenium

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palez

Registriert seit: 04.01.2007

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Die Übersicht müsste mal wieder aktualisiert werden…;-)

Ich schreibe momentan an einem „Playlist of the Week“-Eintrag und merke gerade, dass ich Ballast abwerfen muss, damit den Scheiß überhaupt jemand liest, also, hier habt ihr:

Minsk

…veröffentlichten „The Ritual Fires Of Abandonment“ Anfang 2007 und drangen einige Monate später in meine kleine, enge (Musik-)Welt. In dieser hatte ich kaum die Werke von Neurosis, Isis und Cult of Luna verarbeitet, als ich schon auf der Suche nach mehr war – Minsk kamen mir mit ihrem zweiten Album somit einerseits durchaus gelegen, drohten aber andererseits, im Wust der ganzen anderen Bands, die darauf warteten, entdeckt zu werden (das heutige Überangebot an Gruppen aus dem Bereich kündigte sich schon damals an), zu einer Randnotiz zu verblassen. Gemocht habe ich das Album trotzdem sehr, auch neben anderen Alben zum persönlichen Sommer-Soundtrack auserkoren. Und wie sieht es nun, fast drei Jahre später aus? Da stoße ich, wenn ich darüber nachdenke, was von dieser Begeisterung denn noch wirklich geblieben ist, dann tatsächlich auf diese „Randnotiz“ und traue mich sogar, wenn ich noch länger darüber nachdenke, „The Ritual Fires of Abandonment“ als das beste (Modern) Sludge/Post Metal-Album des Jahrzehnts zu bezeichnen.

Was Minsk denen voraus hatten, mit denen sie in Rezensionen verglichen wurden, darunter auch gewiss „größeren“ und wichtigeren Vertretern des Genres, macht sich früh, nämlich bereits in der äußeren Form bemerkbar. Wenn ich darüber nachdenke, wie lange es gedauert haben muss, am Klang des Albums zu schrauben, zu hämmern, zu verschieben, zu verwischen, zu betonen und zu manipulieren, so nötigt es mir höchsten Respekt vor den Verantwortlichen ab. Es ist ein gewaltiger, blubbernder, kurz vor einer Eruption stehender, dabei im richtigen Moment viel Platz für Schnörkel lassender Sound geworden, die Stücke scheinen sich auch dann noch zu bewegen, wenn eigentlich nichts passiert. Mit den Möglichkeiten, die ein „natürlicher“ Garagenklang bietet, gab man sich sympathischerweise nicht zufrieden. Die netten Leute hinter den Reglern gaben sich größte Mühe dabei, die Musik von jedem Sinn für Realität vollständig abzukoppeln, die sechs Stücke, von denen zwei Interludes und drei überlange Epen sind, so in Szene zu setzen, dass man sich unter keinen Umständen vorstellen kann, wie die Band die Stücke im Proberaum oder auf einem Konzert spielt. Und das Schöne ist: die Kompositionen von Minsk harmonieren damit auch noch ausgesprochen gut. Es klingt seltsam bis lächerlich, bei einem Genre mit „Post“-Präfix von Konventionsgebundenheit und dem Festhalten an altbekannten Rockismen zu sprechen, doch anno 2007 war kaum eine Band davon so weit weg, ohne einen Fuß über die Grenze des Bereichs zu setzen, wie Minsk. Keine Riffs waren hier federführend, eher ausschweifende Tribal-Drum-Exzesse, die TRFOA zusammen mit dem beschwörenden Gesang einen tatsächlich sehr rituellen Anstrich verpassen, keine festgelegten und klaren Konturen, eher eine Songentwicklung, die total natürlich erschien und nie den Eindruck erweckte, von Menschen komponiert worden zu sein. Die Musik umgab einen eher, als dass sie zu greifen war, sie war pure, ja, brennende Hitze. „The Ritual Fires Of Abandonment“ ist quasi ein netter und entspannender Spaziergang durch die Hölle. Stichwort „nett und erholsam“; den Drahtseilakt zwischen Schwere und im Genre in einem gewissen Maß auch wichtiger Leichtigkeit schaffen Minsk vor allem in „White Wings“ mit traumtänzerischer Eleganz.

Im weiteren Verlauf des Albums offenbart sich zudem noch eine weitere Qualität von TRFOA, etwas, worum sich alle Bands in dem Bereich bemühen und was viele von ihnen bis zum selbstzweckhaften Exzess treiben, was Minsk aber zumindest noch auf diesem Album schlichtweg besser konnten: ein ausgesprochen feines Näschen für eine richtig packende Dramaturgie.
Das bezieht sich zunächst noch speziell auf einen Song, nämlich „The Orphans of Piety“, der schon zu Beginn eine ungeahnte Spannung erzeugt. Das bis zur Unendlichkeit gedehnte, armausstreckend sehnsuchtsvolle Saxophonsolo in der Songmitte wird für mich wohl immer in Verbindung mit einer Jahre zurückliegenden Nacht in Moskau stehen, in der ich vom Balkon einer Wohnung im 21. Stockwerk aus in den klaren Himmel und die Stadt darunter hinaussah, während eben dieser Song lief…äh, wie auch immer, einfach unbeschreiblich schöne Stelle. Wie sich der Song dann aber auftürmt, welche Höhen er erklimmt, wie sich der Gesang an seine sich in den Wolken befindende Spitze zu setzen vermag, das ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend und selbst bei größtem Alltagsstress noch ein Innehalten wert.
Zum anderen bezieht sich das aber auch auf die gesamte Dramaturgie des Albums, vor allem wie „Circle of Ashes“ den über 15-minütigen Rausschmeißer „Ceremony Ek Stasis“ einleitet. So darf zunächst einem berühmten Interviewfetzen bezüglich der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki von Robert Oppenheimer gelauscht werden, samt der in ihrer Bedeutung so schwerwiegenden Zeile „Now, I am become Death, the destroyer of worlds.“, mit „Ceremony Ek Stasis“ folgt dann vermutlich so etwas wie die Vertonung jener Bombenangriffe. Hinterlistig beginnt es, in schwarz rauschenden Gitarrensalven bricht folgend die Welt über dem eigenen Kopf zusammen, es reiht sich förmlich ein Intensitätshöhepunkt an den nächsten. In der Mitte dann umgarnen hohe, schlangenartige Gitarrentöne die Sinne, um sie sogleich zu überdehnen wie Kaugummi, und leiten nahtlos in eine Verarbeitung südamerikanischer Rhythmen ein, die in der glutroten Praxis wesentlich natürlicher und songdienlicher und wesentlich weniger nach einer Zurschaustellung von Eklektizismus klingt als in der grauen Theorie.

Mit diesem Moment kommt dann die Gewissheit; das hier eben war etwas wahrhaft Großes, Nachhaltiges. Auch Minsk selbst konnten dieses, ja, monumentale Werk mit dem 2009 veröffentlichten „With Echoes In The Movement of Stone“ nicht übertreffen, aber andere Geschichte…

http://www.youtube.com/watch?v=gIlaZGXe-1s
http://www.youtube.com/watch?v=DYNNe4JZ3t4
http://www.youtube.com/watch?v=wozKC3MNhX0
http://www.youtube.com/watch?v=U5cZier5h68

€: Ich recycle mal ein paar ältere Reviews von mir, da diese Alben einfach mehr Aufmerksamkeit verdient haben…

Munly & the Lee Lewis Harlots – s/t

Referenzenabhaken wird bei Jay Munly, der lebenden Leiche aus Denver und offenbar einem der wichtigsten Protagonisten der dortigen (Gothic) Country/Americana-Szene (der Typ wirkt auch bei Slim Cessana’s Auto Club mit…nur mal so fürs Protokoll), erstaunlich schwierig bis fast sogar ein Ding der Unmöglichkeit; „klingt wie…“ ist ja nicht selten der liebste rettende Strohhalm, an den sich ein Rezensent klammert, wenn es darum geht, Musik irgendwie halbwegs würdig und verständlich zu umreißen, und ja, wieso kann man diesen komischen Kauz mit seinem Banjo, seinen makabren bis deprimierenden Texten und seiner brüchigen (zugegebenermaßen gewöhnungsbedürftigen; beim ersten Durchgang klammert man sich noch etwas an die ganz wunderbar und so gar nicht Richtung Kitsch driftend eingesetzten Frauenchöre) Stimme nicht einfach irgendwo zwischen Nick Cave, Tom Waits und Johnny Cash packen und alle wissen sofort, was gemeint ist? Es ist schwer zu erklären (wo ich das hier gerade schreibe: müsste ich Munly so betrachtet nicht eigentlich hassen? *g*), aber abseits der schwammigen Theorie und mit „Munly & The Lee Lewis Harlots“ im Ohr geht das irgendwie so gar nicht. Es passiert mir erschreckend bis ernüchternd selten (und ich bin damit gewiss in guter Gesellschaft), aber abgesehen von der vielleicht mal „Henry Lee“ ins Gedächtnis rufenden Todeshymne „Goose Walking Over My Grave“ gibt es komplett NICHTS, woran mich die Musik (direkt) erinnert.
Und es gibt noch etwas, weswegen man Munly, vor allem, wenn man versucht, über seine Musik zu schreiben, sowohl hassen darf als auch tief und aufrichtig bewundern sollte: „Munly And The Lee Lewis Harlots“ lebt ganz klar von seiner Atmosphäre, diese lässt sich aber so schwer bis unmöglich in Worte fassen, dass ich den Beitrag vor Frustration am liebsten ins Datennirvana befördern würde (mein Missionierungsdrang ist leider stärker). Man hat zu keiner Sekunde das Gefühl, ein unter ganz üblichen Umständen im Studio eingespieltes Album zu hören, man denkt nicht, dass die Musiker ihr Spiel und die Melodien kontrollieren und in die gewünschte Richtung lenken, es klingt, als sei die Musik als vom Wind und Regen gespielter Soundtrack rund um Munlys Geschichten über den Bach runterfließende Beziehungen, menschliche Abgründe, Tod und Verdammnis entstanden, sie klingt gleichsam unberechenbar wie auch selbstverständlich; in ihren besten Momenten kann man sie beim Kollaps beobachten. Mit dem letzten Titel bringt Munly sein Werk derart beeindruckend zur Kulmination, dass man den Tränen nicht bloß nahe ist. „River Forktine Tippecanoe“ ist ein einziger, siebeneinhalb Minuten langer emotionaler Klimax. Zitternde Streicher und die leise beschwörende Stimme Munlys treiben sich langsam, noch gehalten an, in Ambivalenz zwischen dem Taumel in die eigene psychische Hölle und dem Ausstrecken der Hand nach Erlösung. Die Lage spitzt sich zu, windschieße Streicher wiegen einen ins Koma, das folgende, von Ritual-ähnlichen Drums angetriebene, besessen intonierte „Glory, Glory, Glory“ macht es einem schwer, sich zu entscheiden, ob dieser eindringliche Klagegesang an Gott oder Satan adressiert ist. Püh.

http://www.youtube.com/watch?v=cW93ocCO-sM
http://www.youtube.com/watch?v=XxKh2JKi7Og
http://www.youtube.com/watch?v=l69WZhjxs_g

Weltschmerz

…habe ich entdeckt, als ich aus purer Langeweile eben dieses Wort bei lust.sm eingegeben habe, um mal zu sehen, ob es eine Band (oder mehrere) gibt, die so heißt. Die Musik klingt dabei eigentlich so, wie man es beim Bandnamen vermuten könnte, und doch…nicht anders, aber nach mehr. Auf „Capitale De La Douleur“, dem letzten Album der Band von 2001, wird eine Art Mischung aus Gothic Rock der tendenziell eher alten Schule, leichten Doom Metal-Anleihen und einer, was konkrete Zitate angeht, noch unerheblicheren, aber gut zur Soundwandästhetik passenden Shoegaze-Kante geboten. Totenglockenartige Gitarren und Keyboard-Texturen verlaufen zu einer trüben, fast komplett undurchsichtigen Nebelwand, während die stark hallenden Drums mit fatalistischer Entschlossenheit ins Nichts marschieren, der Sänger mit seinen eher schon gesprochenen, schicksalsschwangeren Worten (wobei die Texte zum großen Teil auch auf Italienisch sind, von daher…) seiner Verlorenheit in dieser Kulisse und die Sängerin ihrer machtlosen Verzweiflung Ausdruck verleihen. Weltschmerz sind die Kapitäne eines Geisterschiffs, das im steten, langsamen Wogen eines trüben, schlammigen, tiefroten Meeres und unter ebenso blutgefärbt scheinendem Himmel in die Versenkung segelt, wo vor ihnen schon Gegenwart und Zukunft in den Abgrund flossen, sie lenken ihr Schiff gewissenhaft geradeaus und können doch die Hand vorm Auge kaum noch sehen. Bemerkenswert ist dabei die Fähigkeit, Dramatik und Pathos mit einem immerwährenden Brodeln und dem bewussten Vermeiden einer allzu großen Geste zu verknüpfen, erstaunlich und faszinierend die große innere Anspannung und Unruhe in den doch so trägen Gewässern dieser postapokalyptischen Taumelsmusik. Lehrbeispiel dafür ist vor allem „Inanna Incarnates“ mit seinem großartigen Finale. Für Leute, die sich musikalisch irgendwo zwischen getragenen Fields of the Nephilim, Anathema auf „The Silent Enigma“, In The Woods… und eventuell Dreadful Shadows wohl fühlen, ist dieses streng genommen nicht wirklich innovative, aber definitiv besondere Album zweifellos ein Reinhören wert; wenn ich mir den Bekanntheitsgrad von Weltschmerz vor Augen führe, muss es von Leuten dieser Sorte nicht gerade viele geben. Ach ja: die im Verhältnis zu Weltschmerz größere Popularität von Canaan kann ich in dem Zusammenhang null nachvollziehen.

http://www.myspace.com/weltschmerz1