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Mehr oder wenger alte Reviews (ich faules Stück, ich), aber die zwei aus meiner Sicht wichtigsten Alben ihrer Bewegung…und der Thread soll wieder leben.
I’ve lost the will to want more: Joy Division – Unknown Pleasures
Was ist eigentlich Entfremdung? Ein Begriff, dessen Bedeutung man in Wikipedia nachschlagen kann: „Entfremdung bezeichnet einen individuellen oder gesellschaftlichen Zustand, in dem eine ursprünglich natürliche Beziehung (zwischen Menschen, Menschen und Arbeit, Menschen und dem Produkt ihrer Arbeit sowie von Menschen zu sich selbst) aufgehoben, verkehrt oder zerstört wird.“. Oder: Was ist Isolation? Ein Schlagwort in Rezensionen, heute wie damals. Ein Song von Joy Division.
Was ist eigentlich Entfremdung, was Isolation? Einzelne Szenen, Klischees. Die Gefühlszustände, die sich wohl mit am schwersten mit Worten erfassen lassen. Da sich gerade darin eine Gemeinsamkeit findet, könnte man es mit Musik versuchen. Ende der 70er bis Anfang der 80er haben das im Grunde viele Bands getan, teilweise mit durchaus ähnlichen Zeichencodes. Sie zogen recht verschiedene Schlüsse daraus und reagierten auf verschiedene Weisen, deren gemeinsamer Ausgangspunkt waren jedoch diese Löcher im Raum-Zeit-Kontinuum – Entfremdung und Isolation. Joy Division waren Teil davon, Teil einer gemeinsamen Wahrnehmung und Teil einer bestimmten Gesellschaft, die zwischen Kunsthochschulen, Fabrikhallen und Englands eiserner Lady Margaret Tratcher heterogen und dicht genug aneinader war, um nicht zu einem „richtigen“ Musikgenre, aber zu einem Sammelbegriff und einer Bewegung zu werden. Rückblickend wurden sie zur Versinnbildlichung und Ikonen dieser Bewegung. Gleichzeitig waren sie von Gemeinsamkeit und Gesellschaft aber auch so weit weg wie nur möglich.
Was ist eigentlich Entfremdung? Was ist Isolation? Drei Uhr nachts, surrender Ventilator und ein tonlos flimmernder Fernseher in einem kärglich eingerichteten Zimmer. Herumstehen zwischen redenden Bekannten und die näherkommende und immer dringender werdende Frage: „Was zum Teufel mache ich eigentlich hier?“ Luftschnappend den Kopf hinausstrecken aus der giftigen, stickigen Atmosphäre, Gliedmaßen von der früheren Krümmung erlösen und am eigenen Leib feststellen, dass es im Vakuum des Weltraums keinen Sauerstoff gibt. Zwei Alben lang konnten diese Fragen mit dem Bandnamen Joy Division beantwortet werden. Viele Bands haben damals Ähnliches versucht, erst ihre Masse konnte einem eigentlich nicht fassbaren Lebensgefühl einen Klang verleihen. Joy Division, die sicherlich bekannteste Band unter ihnen, zeichnen sich dadurch aus, fest zu dieser Masse zu gehören und viel zur Ästhetik und zum Selbstverständnis des sogenannten Post-Punk/New Wave beigetragen zu haben; gleichzeitig ist ihre Musik aber auch zeitlos. Sie passieren zwar 1979 zwischen den Industriehallen Manchesters, doch es ist dieser radikal und schmerzhaft introspektive Blickwinkel, der die Songs von „Unknown Pleasures“ immergültig macht. Das ständige Gefühl des Ekels und Überdrusses gegenüber dem Leben, sich selbst und den anderen, die Sprachlosigkeit jenseits des Schocks und das apathische Feststellen ohne die Möglichkeit einer emotionalen Regung können nicht 1983 von der Bildfläche verschwunden sein. Joy Division bezogen sich nicht eindeutig auf philosophische oder künstlerische Strömungen, sie bezogen sich vor allem auf dieses Gefühl und haben gerade deswegen heutzutage immer noch einen solch hohen Status.
Wenn man von der auf „Unknown Pleasures“ enthaltenen Musik spricht, gilt es dabei, den immensen Einfluss des Produzenten Martin Hannett zu beachten. Der mit Factory Records assoziierte Hannett war auch nach dem Ende der Bewegung eine der Schlüsselfiguren der Musikszene Manchesters. Zu einem gewissen Teil „machte“ er Joy Division; die Bandmitglieder wehrten sich zunächst noch aus dem alten Punk-Selbstverständnis heraus gegen seine Art der Betonung und zeigten sich vom Mix direkt danach noch unzufrieden, da dieser nicht zeigte, welche Energie sie als Punk-/Rockband entwickeln konnten. Ein nachvollziehbarer Vorwurf, denn die Produktion presst das letzte Bisschen Leben aus „Unknown Pleasures“ heraus. Mit dem Eigrreifen von Hannett waren Warsaw definitiv und endgültig Geschichte. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Bass zu, denn er ist oft das melodietragende Instrument, während die Gitarre teilweise fast schon zu einem Hintergrundrauschen degradiert wird. Sie ist die Reibung zwischen den Teilen von alten, rostigen, schwer arbeitenden Maschinen. Gitarren und Drums haben diesen blechernen Nachhall, suchen einander in einiger Entfernung voneinander. Die Schallwellen der Stimme finden im Raum keinen Widerstand; die Einsamkeit manifestiert sich bereits im Klangbild. Auch die Songs unternehmen kaum einen Versuch, aus diesem Klangschema auszubrechen. Man kann in der Rockmusik lange nach einer solch treffenden Vertonung von Stillstand suchen. Es gibt auf „Unknown Pleasures“ (noch) kaum etwas, das ihren instrumentalen Purismus durchbricht, und nahezu keine Auflockerung der strengen Reduktion auf knapp weniger als das Nötigste. Wenn es irgendwo Soundeffekte gibt oder ein relativ normaler, konziser, in sich geschlossener Fast-Hit wie „Shadowplay“ entsteht, dient es als Ausnahme der zusätzlichen Betonung der Regel. Paradoxerweise entsteht gerade im Klangvakuum bemerkenswerte Dichte, ergibt sich gerade aus diesem Minimalismus wahre Größe; UP ist, mehr als 30 Jahre nach seinem Erscheinen, ein mattschwarzer Monolith, wie er edler, seltener und beeindruckender nicht sein könnte. Eine Band wie Interpol adaptiert die Stilmittel, doch nicht die Stimmung.
Manchmal wird „Unknown Pleasures“ als das erste richtige Gothic Rock-Album der Musikgeschichte bezeichnet. Die Schwärze, die Kälte, der Zeichenvorrat, an alldem sollte sich die Bewegung in ihren Anfangsjahren zwar bedienen – doch wie könnte es das sein? „Unknown Pleasures“ fehlt es an Showeffekten, an der Fähigkeit, Todesbewusstsein und -sehnsucht in einen hedonistischen Kontext zu stellen und diese Idee zu einer Art Bewegung und Ästhetik auszubauen, an der Bereitschaft zur Selbstexploitation und vor allem an Pathos. Die Treffsicherheit von Ian Curtis‘ Texten ist grausam. Diese Art zu singen ist kein Resultat von Üben vor dem Badezimmerspiegel. Das rein emotionale Erahnen der Authentizität von Joy Division (das sich wenig später tragisch bestätigen sollte) ist – wie so oft – mitverantwortlich für die von der Band und vor allem ihrem Frontmann ausgehende Faszinationskraft.
Andere Bands beenden ihre Alben mit einem Knall, Epik, Ausschweifungen. „I Remember Nothing“ ist sowas wie der „Anti-Knall“, eine Implosion, Statement, letzte Konsequenz und schlichtweg der großartigste, einnehmendste, passendste Schluss, den ich mir für ein Album wie „Unknown Pleasures“ vorstellen kann. Hier kann der Hörer sich nicht einmal mehr an eine halbwegs beibehaltene Rocksong-Struktur klammern, man hat das Fleisch abgenagt und greift nun das Skelett an. Viel mehr als einen unnachgiebig monotonen Rhythmus, immer wieder anschwellende und verschwindende Gitarren und Gesang gibt es nicht. Der Krautrock von Neu! minus Space und Entdeckergeist, mit verriegelten Fenstern und ohne Ausweg. Der Song erschafft eine vollkommene Finsternis und das Bewusstsein völliger Einsamkeit. Er schärft das Gehör für jedes noch so kleine Geräusch. Peitschenhiebe. Glasklirren. Ian Curtis‘ Stimme. Me in my own world.
Der Nachfolger „Closer“ wurde 1980 posthum veröffentlicht, wenige Monate zuvor hatte Curtis sich in seinem Apartement erhängt. Peter Hook, Bernard Sumner und Stephen Morris gründeten gemeinsam mit Gillian Gilbert nach dem Ende von Joy Division New Order. Eine gute Band, eine unter vielen guten Bands, eine vielleicht sogar ebenfalls wichtige. Aber keine Band mehr, die aus einem inneren Drang, aus dem Bewusstsein einer Unausweichlichkeit heraus musiziert.
http://www.youtube.com/watch?v=bHfBhuEPf1g
http://www.youtube.com/watch?v=GqUFbd8aAN0
http://www.youtube.com/watch?v=juD4ayBbHdY
http://www.youtube.com/watch?v=3YtgzIQEX-M
He might replace the old with the moon: Wire – 154
An kaum einer Diskografie lässt sich die Entwicklung der Post Punk-Bewegung so gut ablesen und nachvollziehen wie an den ersten drei Alben von Wire. Das Debüt „Pink Flag“ wurde 1977 mitten im Höhepunkt der Punk-Welle veröffentlicht und stand doch einen Schritt abseits. Die simplen, aggressiven, sägenden Rhythmen und Akkorde, die die technisch damals kaum versierte Band eintrümmerte, rückten die Band in die Nähe des Punks, doch anders als bei den damals populären Vertretern und ihren meist brav strukturierten Songs waren die Stücke immer fragmentarisch und einsilbig, selten wirklich ausformuliert und bewusst nicht zu Ende gedacht – und dementsprechend kurz. Ein Dreiminüter war auf „Pink Flag“ ein epischer Longtrack und eine Ausnahme. Dennoch fanden sich in diesem Haufen von Bruchstücken und Miniaturen auch einige wegweisende Ideen – siehe „Three Girl Rhumba“ und Elastica.
Die Basis dieser abgehackten Rohheit behielt man auch auf dem ein Jahr darauf erscheinenden Zweitwerk „Chairs Missing“ bei. Doch die Band hat sich hörbar weiterentwickelt, neben den kurzen, punkigen Stücken gab es nun auch relativ lange Songkonstrukte wie „Mercy“, lupenreine, makellos harmonische Popsongs wie „Outdoor Miner“, die auf dem Folgealbum präsenter werdenden Neurosen wie „Practice Makes Perfect“ und allerhand Experimente mit Electronica. Unzählige Bands, die sich erst später gründen sollten, bekamen hier musikalische Grundimpulse; nicht umsonst benutzt man in britischen Musikzeitschriften häufig die Beschreibung „wirish“.
Dies war ja alles gut und auch wichtig – aber noch nicht so formvollendet und ausgefeilt wie auf dem 1979 erschienenen Drittwerk „154“.
Statt von kantigen Gitarren wird man in „I Shoud Have Known Better“ nun von flächigen Keyboard-Sounds mit Ambient-Charakter, dem melancholischer und tiefer gewordenen Gesang von Colin Newman und sich eher im Hintergrund haltenden, jedoch gewissermaßen treibenden Gitarren und Drums begrüßt. Zwar klingt das folgende „Two People In A Room“ schon etwas vertrauter, doch die Atmosphäre der musikalischen Umgebung hat sich drastisch und unwiderruflich verändert. Alles ist gehüllt in ein unterkühltes, chromglänzendes Gewand, die elektronischen Elemente, die auf dem Vorgänger noch aus purer Lust am Experiment eingesetzt und nicht wirklich homogen in den Bandsound integriert wurden, sind hier tragender Bestandteil des Gesamtsounds. Die Musiker hinter Wire sind nun nicht mehr die Dilettanten von vor zwei bis drei Jahren, die aufgrund ihrer (Un-)Fähigkeiten Spielverbot in einigen Londoner Clubs bekamen, sondern ambitionierte, durchaus etwas berechnende Könner, die nichts dem Zufall überlassen.
Das Album zeigt ein dem Vorgänger nicht unähnliches Facettenreichtum: es gibt da die intelligenten Popsongs, die so klingen wie eine Post Punk-Version der Beatles mit einem mechanischen Herzen. Es gibt da die eher arttypischen Punk Rock-Ausbrüche, die jedoch diesmal auf den Punkt gebracht wurden und von Neurosen und Wahnsinn durchzogen sind. Es gibt für die Zeit und in dem Kontext wahnwitzige und sperrige Klangcollagen, die aber nicht bloß den Selbstzweck eines Experiments erfüllen. Und es gibt Stücke, die es sich zwischen diesen Stühlen bequem machen. In seiner Stilvielfalt hat „154“ „Chairs Missing“ trotzdem vor allem eines voraus: Homogenität. Das Album wird bestimmt von einer kalten, dem Cover entsprechend abstrakten, unwirtlichen und irgendwie entseelten Atmosphäre und der damit einhergehenden Düsternis. An der aufkeimenden Gothic-Bewegung sind Songs wie der bereits erwähnte Opener „I Should Have Known Better“, „A Touching Display“ sowie das sonderbare, hypnotische „A Mutual Friend“ mit seinen merkwürdig-schönen Bläsern und seinem benommenen Gesang gewiss nicht ganz spurlos vorbeigegangen. Das Unmittelbare und Ungeschliffene, die Ausbrüche der ersten beiden Alben sind hier in der früheren, entfesselten Form natürlich nicht mehr vorzufinden, würden andererseits aber auch nicht in das Bild dieser scheinbar perfekt durchkonstruierten Welt hineinpassen. Herzstück des Albums ist das knapp siebenminütige „A Touching Display“; eine vertonte Anti-Utopie, eine apokalyptische, futuristische Vision von „Punk Floyd“.
Die beiden Vorgängerwerke mögen einen etwas lauteren und bis heute präsenteren Nachhall gehabt haben, es mögen andere die ersten beiden Alben aufgrund ihrer Rohheit und größeren Greifbarkeit bevorzugen – für mich bleibt „154“ der Maßstab, an dem ich die Band immer messen werde, und der künstlerische Höhepunkt von Wire. „154“ ist sperrig und elegant, kunstvoll, visionär und zeitlos. Es kommt der Perfektion gerade in den Details gefährlich nahe und ist eines der innovativsten und besten Werke einer Bewegung, die zur Zeit der Veröffentlichung des Albums gerade erst richtig ins Rollen gekommen war.
http://www.youtube.com/watch?v=0iJP_0t20JE
http://www.youtube.com/watch?v=9In5Qd_WugE
http://www.youtube.com/watch?v=JOashlbufJk
http://www.youtube.com/watch?v=-EJ4wEtuRYU
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trying to leave [COLOR=#808080]a mark more permanent than myself[/COLOR]