Re: Nezys und Paulas musikalische Umkleidekabine mit Guckschlitz (mit Prüchtepunch [sic!], Éclairs und Stargästen)

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palez

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The deafening silence: A brief history of Mädchendrone

1989-1991: My Bloody Valentine nehmen ihr bis dato letztes Album „Loveless“ in 19 verschiedenen Studios auf. Der finanzielle Aufwand treibt das Indie-Label Creation Records an den Rand des Ruins; (von der Band dementierten) Gerüchten zufolge soll sich der Gesamtkostenpunkt der Aufnahmen am Ende auf £250,000 belaufen. Trotz euphorischer Reaktionen seitens der Musikpresse ist das Album in kommerzieller Hinsicht kein Erfolg. Wenig später löst sich die Band auf.
Dieses vielleicht bekannteste und ganz sicher kostenintensivste Shoegaze-Album der Musikgeschichte umhüllt den Hörer mit süßlich-chemisch und betäubend intensiv duftenden, rosa Nebelschwaden. Rockmusikalische Ursprünge sind höchstens noch in „Only Swallow“ und „Come in Alone“ erahnbar, die beide vom Drumming auf dem Boden der Tatsachen gehalten werden. Der Rest der Songs hebelt sie aus, verschleiert sie hinter dem beständigen Rauschen, dessen Puls manchmal die einzige Rhythmuskonstante bildet, dem androgynen, hohen Gesang und den irrlichternden Melodien, beide die einzigen Fixpunkte für den Blick in dieser betörenden, giftig süßen Rauchlandschaft.
Völlig zurecht wurde My Bloody Valentine schon relativ kurze Zeit nach Veröffentlichung Vorreiterstellung in ihrer Sparte und Einzigartigkeit attestiert; lange Zeit war kaum mehr jemand größenwahnsinnig genug, um das auf „Loveless“ demonstrierte Maß an Verfremdung und Intransparenz erreichen oder gar übertreffen zu wollen.

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1993: „Earth 2: Special Low-Frequency Version“, das Debütalbum der Washingtoner Drone Doom-Band Earth, wird veröffentlicht. Trotz Assoziation mit Sub Pop und eines berühmten Sympathisanten (-> Kurt Cobain) versinkt die Band für lange Zeit in der Obskurität; klar, wer sich so weit aus dem Fenster lehnt, fällt irgendwann ganz aus dem Haus. Es gibt auf dem Album keinen Gesang und kein Schlagzeug, zwischen dessen Aufschlägen man sich ein Bier holen könnte, nur Gitarre und Bass und deren über Minuten mantraartig wiederholte Tonfolgen, das aber heruntergestimmt bis an den Erdmittelpunkt, feedbackzersetzt und wahnsinnig raumfüllend und laut. „Earth 2: Special Low-Frequency Version“ ist die Essenz; die Essenz des Black Sabbath-Debüts und der davon abgeleiteten und zementierten Doom-Melodien, die danach von unzähligen klassischen Doom Metal-Bands kopiert wurden; somit auch, auch wenn sich Traditionalisten dagegen sträuben mögen, die Essenz von Doom Metal im Allgemeinen; die Essenz des puristischen Drone Dooms, wie ihm die ehemalige Earth-Coverband Sunn O))) zu mittlerweile relativ beachtlicher Popularität verholfen hat; die Essenz als Antwort auf die Frage, wie weit man (Rock?)Musik herunterbrechen und minimieren darf bzw. wie weit man sie überhaupt herunterbrechen und minimieren kann. Spartenintern sind seit diesem ersten reinförmigen Monumentalwerk zumindest keine wirklich entscheidenden Fortschritte, was das Ausloten der Extreme angeht, verzeichnet worden.

http://tinyurl.com/6du2hsg

Will man nun die in der Überschrift beschriebene Schmelztiegelmusik als Mischung dieser beiden Alben beschreiben, macht man es sich viel zu leicht. Tatsächlich sind die Referenzbands dieser Subrichtung entweder weit oder noch weiter von den oben vorgestellten Alben entfernt; um in greifbare Nähe des Sounds vorzudringen, muss das klaffende Loch zwischen Earth und MBV mittels anderer Einflüsse zumindest provisorisch geschlossen werden.

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1994: Das schlicht „Live“ betitelte Live-Album der Dark Wave-Formation Lycia wird veröffentlicht. Das fast zwanzigminütige Instrumentalstück „The Last Thoughts Before Sleep (Sun Beats Hard)“ wurde dabei einzig beim Beautifulnoise-Festival in Scottsdale im Jahre 1993 live aufgeführt und ist auf keiner Studioveröffentlichung von Lycia enthalten (wobei Teile des Stücks beim im gleichen Jahr erschienenen Album des Lycia-Nebenprojekts Bleak nochmal verwendet wurden).
In ihrer Frühphase bis zum Einstieg von Tara VanFlower spielen Lycia eine Art von Musik, die dem genannten Schmelztiegelklang noch am meisten ähnelt. Im Vergleich zu den mit Vierspurgerät aufgenommenen Studioversionen haben die Kompositionen nun eine größere Soundfülle und eine allgemein sehr vorteilhafte Ummantelung erhalten. Es dröhnt, rauscht und scheppert, es ist ein Gesamtsound, der eigentlich die meisten feinen Details unter sich begräbt – und schlichtweg das Beste, was der Musik von Lycia passieren konnte. Durch das tiefe Basswummern und die verfremdenden Effekte bauen sich „Pygmallion“ und „The Body Electric“ zu Klangkathedralen von beeindruckender, im Dunkel der Nacht kaum überblickbarer Größe und erstaunlicher Architektur auf. „A Brief Glimpse“ und „The Facade Fades“ werden dank fast archaisch anmutender Drummuster zu einsamen und abweisenden, kalten und gefährlichen schwarzen Monumenten – und „The Last Thoughts Before Sleep (Sun Beats Hard)“, dieser beinahe zwanzigminütige Instrumentalmonolith, erzielt seinen gewünschten Effekt. „Live“ ist interstellare, nachtschwarze, höchst faszinierende Musik zwischen Ambient, Dark Wave und Drone, so dunkel und erdrückend unüberblickbar wie der Weltraum, so romantisch und schön wie der Blick in einen klaren Nachthimmel.

Bleak liefern schließlich mit „The Boiler Room“, dem Opener ihres bisher einzigen Albums „Vane“, fast schon so etwas wie die Vervollkommnung dieser Schmelztiegelmusik, deren erste wirkliche Vertreter sich erst fünf Jahre nach der Veröffentlichung dieses Albums gründen sollten.

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1992: Gründungsjahr des italienischen Dark Ambient-/Industrial-/Noise-Projekts Bad Sector. Eine Alleinstellung verschafft ihm recht bald sein Soundbild; über rauschende, bis zur Unkenntlichkeit konzentrierte Soundfrequenzen und Geräusche wie aus dem Inneren eines unterirdischen Industriekomplexes legen sich nicht nur ansatzweise melodische Keyboardtupfer. Die Melodien sind meist einem verschwommenen, flimmernden, irrealen Leuchten in ohnmächtig machender Dunkelheit gleich, auf zahlreichen Stücken von „Dolmen Factory“ aber klarer, greifbarer und dominanter („Alex 1964“), als es Dark Ambient-Minimalisten damals in den Sinn gekommen wäre.

http://tinyurl.com/6hkm3gs

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Die Zeitrechnung dieser neuen Subrichtung des Drone Dooms beginnt frühestens 1999, als ein unter dem Pseudonym Kris Angylus bekannter Amerikaner ein Projekt namens The Angelic Process ins Leben ruft. Für den Vertrieb der ersten Veröffentlichungen, des Albums „…And Your Blood is Full of Honey“ und der „Theangelicprocessep“ (so obskur und vergessen, dass man an ihrer Existenz zweifeln darf…; beide 2001), wird das kleine, von Freunden von Angylus mitfinanzierte Label Decaying Sun Records gegründet. Kurz vor den Aufnahmen von „Coma Waering“ stößt Monica Dragonfly zur Band; das Album wird 2003 veröffentlicht, ihm folgt 2006 die EP „Sigh“. Als Teaser zur kommenden dritten Full Length wird im selben Jahr die streng limitierte „We All Die Laughing“-EP auf den Markt gebracht, „Weighing Souls With Sand folgt Frühling 2007. In diesem Zeitraum kommt es zu einem größeren Popularitätsschub für die Band, wofür vermutlich auch der Wechsel zu Profound Lore verantwortlich ist. CW und …AYBIFOH werden in dem Zuge von Paradigms Recordings und Profound Lore wiederveröffentlicht.
Kurz darauf wird die Band für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Kris Angylus bricht sich bei einem Unfall die Hand, wodurch seine Fähigkeiten als Gitarrist fortan selbst bei vollständiger Genesung stark eingeschränkt sein würden. Die Verletzung hat aber noch schwerwiegendere Folgen; der seit jeher an Depressionen leidende Angylus begeht im April 2008 im Alter von 30 Jahren (bin mir da aber zugegebenermaßen selbst nicht ganz sicher 😮 ) Selbstmord und hinterlässt Frau (Monica Dragonfly) und Tochter. Das Ende von The Angelic Process ist somit besiegelt.

Wenn ich wollte, könnte ich The Angelic Process immer dann als Gegenbeispiel benutzen, wenn in Verbindung mit Drone irgendwas von Monotonie, Strukturlosigkeit, Kopfmusik und Langeweile gefaselt wird. Schon allein die Tatsache, dass kaum ein Song der Band über die 10 Minuten-Marke hinausgeht, ist in diesem Bereich durchaus außergewöhnlich. Die Stücke sind kompositorisch dafür so verdichtet, so voller Dynamik und atemloser Spannung, dass jeder noch so skeptische Hörer nach wenigen Minuten schon alle Vorbehalte vergisst. Zudem, und auch das könnte einige durchaus überraschen, haben die Stücke von The Angelic Process Melodien und Riffs; man sollte aber nicht erwarten, sich in einer wohlig-vertraute Umgebung betten zu können. Es ist dieser Sound, der einem den Boden unter den Füßen wegreißt. Ich bin gewiss nicht die Einzige, die es immer noch erstaunt, dass man Drums, onomatopoetischen Gesang und mit Cellobögen gespielte Gitarren allein durch Verfremdung so klingen lassen kann. Dass der Klang nicht mehr mit den Instrumenten in Verbindung gebracht werden kann, beansprucht hier die Aufmerksamkeit noch am wenigsten, hat das Soundbild doch immer und zur gleichen Zeit die Leuchtkraft einer Supernova, die Finsternis dessen, was davon zurückbleibt, und die Zerstörungskraft und Hitze tausender Atomexplosionen. Der Hall reißt Schluchten in den Boden, der Klang ist absolut intransparent, aber überwältigend massiv. Es ist traurig, dass die Bedeutung und die Möglichkeiten der Produktion immer noch von so vielen Bands derart unterschätzt werden, beweisen The Angelic Process doch, dass sie so viel mehr sein kann als nur der dünne, halbtransparente Mantel der Kompositionen. Es gibt zudem keine weitere Band in dem Bereich, bei der die Melodien derart bestimmend und geradezu aufdringlich klingen. Aber was für Melodien das sind: Sie erstrecken sich aus dem Chaos, brennen auf der Haut, sind nah und überall und doch unerreichbar. Höllisch und elysisch, ihre Schönheit erhebend, fragil, brutal und niederstreckend zugleich, und doch weit mehr als nur Teil einer Wechselwirkung und klarer Rollenvorgaben. Es ist falsch, im Falle von The Angelic Process von einem Kontrast zu sprechen; ihre Musik zeigt die Verschmelzung von Eros und Thanatos.
Ja, wenn ich wollte, könnte ich The Angelic Process nun als Gegenargument in Musikdiskussionen mit Radius-0-Horizont-Menschen ausspielen. The Angelic Process sind jedoch weit mehr als bloß anders als die anderen.

Wenn man ihn in Interviews nach seinen Haupteinflüssen fragte, verwies Kris Angylus iimmer auf Neurosis, My Bloody valentine und Swans. Wenn man dabei die Musik von The Angelic Process hört, hat man jedoch den Eindruck, sie sei in einem vollkommenen Vakuum, fernab von Einflüssen, aus sich selbst heraus und quasi fast wie das Universum entstanden; dies ist die einzige, dabei aber enorm wichtige Gemeinsamkeit mit Angylus‘ Hauptinspirationsquellen. The Angelic Process sind die vielleicht einzige Band der letzten zehn Jahre, der ich ohne Abstriche absolute Einzigartigkeit zusprechen würde. In diesem Maße ist das mehr als etwas Besonderes. Diese absolute stilistische Einzigartigkeit ist dabei allerdings nur ein Nebenprodukt einer Herangehensweise an die Musik, die nur wenige Bands vor TAP an den Tag gelegt und lange genug durchgehalten haben. Diese Musik scheint von anderen Strömungen, reiner Kompositionsmathematik und Zeitgeist vollkommen unberührt, sie ist so ursprünglich wie nur wenige Bands/Alben vor ihr. Der Ursprung ist dabei immer das Gefühl, und zwar das gnadenlos niederreißende, sich von Psyche auf die Physis übertragende Gefühl, das Gefühl, von mehreren tausend Volt durchströmt zu sein, und dieses Gefühl ist das einzige, was die Entwicklung der Stücke bestimmen kann. Gerade deswegen klingen die Strukturen derart effektiv, ausgefeilt und dennoch unberechenbar, die Melodien so klar. „Coma Waering“ und vor allem „Weighing Souls With Sand“ sind der Endpunkt eines Entschlackungsprozesses, bei dem die Musik von allem Überflüssigen und Beschränkenden, von Körper und Worten befreit wurde, bis nur noch das Destillat des Gefühls zurückbleibt und wirkt, nachklingt, nachhaltig verändert. Die Musik ist kein möglichst genaues Abbild, es ist die Innenansicht. Es gibt im Grunde keine direktere Musik als die wortlosen und bildgewaltigen Meisterwerke von The Angelic Process.

Das Gefühl, in dessen Dienst sich die Musik von TAP stellt, hat es an sich, ein kurzes, höchstens minutenlanges Aufleuchten zu sein, den Höhepunkt einer Anhäufung von Last zu markieren. In einem vor Schmerzen pochenden Schädel, in einem grässlich überfüllten und erstickend leeren Bewusstsein, dessen Wände immer näher rücken, in einem Organismus, in dem jede einzelne Zelle sich übergeben zu wollen scheint, es aber nicht kann, in Songs von Converge und Swans auch zum Beispiel. The Angelic Process vermitteln dieses Gefühl unablässig über Albumlänge hinweg. Es funktioniert trotzdem und ist einer der vielen Gründe, weshalb ich diese Band aufrichtig bewundere. Als Ausgangslange dient The Angelic Process auf „Coma Waering“ und „Weighing Souls With Sand“ dabei eine Geschichte. Eine Geschichte über einen Mann, der am Krankenbett den letzten Kampf seines Lebens verliert, und seine Ehefrau, deren Leben fortan aus den Fugen gerät und in einer Katastrophe endet. Eine Geschichte über überwältigende Erschöpfung, unaushaltbaren existentiellen Schmerz, Einsamkeit, Lebensentfremdung, Aufbegehren, Resignation und den Tod(/Selbstmord) als Erlösung. Erst durch diesen Kontext beginnt der Klangbombast, seine volle Wirkung zu entfalten. Vor allem der Schwanengesang der Band, „Weighing Souls With Sand“, ist Musik, die einen mit unbändiger, knochenbrechender Gewalt dem Erdboden gleichmacht, deren markerschütternder, sich gleißend hell über den pechschwarzen Rauchwolken erhebender Schrei das Leid der Menschheit in sich bündelt und deren Melodien den Blick auf die Erlösung freigeben. Warmes Blut strömt die Wangen, Arme, Hände hinab, warmes Blut und Tränen. Immer mehr breiten sich das Fieber und die pochenden Kopfschmerzen aus, vernebeln die Sinne, schneiden die Gedankenströme ab, lassen im Wust von flimmernden Wortfetzen nur noch eine vehemente, einsilbige Verneinung zu. Ein undurchsichtiges Zusammenspiel aus Glutrot und Schwarz, Zittern, schweres Atmen, das Schrittempo wird höher, immer höher, verzweifelter, panischer. Mit den Fäusten gegen die Wände des Bewusstseins schlagen, kratzen, zerbrechen. Sie kommen näher. Immer noch.

Ich denke, es gibt keine Band, über die ich über die Jahre derart viel und euphorisch geschrieben habe. Vermutlich dürfte auch dieser Versuch, mein besonderes Verhältnis zu dieser Band für Außenstehende verständlich darzulegen, als gescheitert angesehen werden. Aber wenn auch nur eine weitere Person nun in das Werk der Band reinhört, bin ich zufrieden.

http://tinyurl.com/yh3bcrt
http://tinyurl.com/ycxskgh
http://tinyurl.com/5wkcm3z

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2004: Jesu veröffentlichen nach der aus zwei Stücken bestehenden vierzigminütigen EP „Heart Ache“ ihre erste, selbstbetitelte Full Length. Schon bei den Industrial Metal-Pionieren Godflesh gab es, wenn man so will, Rückschlüsse auf Justin K. Broadricks späteren Karriereweg (ins Leben gerufen wurde Jesu dabei sogar noch ein Jahr vor dem Godflesh-Split 2002); deutlich und vielleicht sogar ganz bewusst auf „Jesu“, dem letzten Song des Schwanengesangs „Hymns“, erst im Rückblick sogar schon auf „Dead Head“ von „Streetcleaner“ (1989). „Jesu“ bietet eine sich mühsam wie mit einem gebrochenen Bein vorwärtsschleppende Mischung aus industrialisiertem Doom Metal, schillernd traurigen und verlorenen Keyboardtropfen und dem apathischen und benommenen Klargesang Broadricks, der den Eindruck erweckt, als hätte der Mann aus eigenen Stücken seit Jahrzehnten keine sozialen Kontakte mehr gehabt. Diese bewusst krude und brüchig gehaltene Musik findet sich am Ende irgendwo zwischen frühen Godflesh/Swans, Neurosis und Red House Painters wieder und ihre Klasse wurde von Broadrick selbst auf den folgenden, softer, elektronischer und zerfaserter werdenden Veröffentlichungen lediglich gestreift.

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2003: Aidan Baker, mittlerweile durchaus profilierter Ambient-Klangmaler, der unter anderem schon mit Tim Hecker zusammengearbeitet hat, ruft zusammen mit Leah Buckareff Nadja ins Leben. Bis heute hat das Duo eine für ihre bisher recht kurze Lebensdauer erstaunliche und kaum überblickbare Fülle an Tonträgern veröffentlicht, wovon „Touched“, „Truth Becomes Death“, „Radiance of Shadows“ sowie das Coveralbum „When I See The Sun Always Shines On TV“ vermutlich die bekanntesten sind.
Das musikalische Grundgerüst ist da schnell im extremeren Doom Metal verortet, von dieser Basis ausgehend wird aber kein Stein auf dem anderen gelassen. Die Riffs haben noch so etwas wie Form, angesichts ihres extrem verfremdeten Klangs glaubt man als Hörer aber nicht, dass sie ihren Ursprung in „ganz normalen“ Stromgitarren hatten. Zwischen dem Rauschen und Knistern findet sich die gebrochene Flüsterstimme von Aidan Baker, schwach flimmernde Synthesizer tragen ausladende Melodien. Die Atmosphäre schwankt zwischen Industriekomplex, Kaminnähe und Eiszeit, der Stil bleibt weitgehend gleich. Nadja zeichnen sich durch die Gleichsetzung von absoluter Stille und lückenlos komprimiertem Lärm aus; im Gegensatz zum Sturm und Drang-Drone von The Angelic Process entwickeln sich die Stücke bei grundsätzlich ähnlichem Soundbild unaufgeregt und schleichend, im Vergleich zu Jesu ist der Klang pulverschneeweich und homogen.

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2006: Die 1996 formierten The Goslings veröffentlichen „Grandeur of Hair“. GOH, das ist Dronegaze in hässlich. Der analoge Klang ist einige Meter zu eisern und rostzerfressen, um noch in irgendeiner Weise schön, ja, sogar um noch charmant zu sein. Die gefährlich verzerrten Gitarren klingen permanent nach Autounfall. Der Gesang klingt wie aus einer anderen Galaxie und so gar nicht zum Rest zugehörig. Das Drumming befindet sich in einem desolaten Zustand zwischen Fiebertraum und Wachkoma. Die Melodien tangieren den Begriff „Neoshoegaze“, retten in dieser Kulisse aber auch nichts mehr. „Grandeur of Hair“ fühlt sich an wie das Hinunterschlucken von rostigen Wurfsternen; Kopfhörergenuss, nach dem diese Art von Musik ja eigentlich verlangt, ist gleichzusetzen mit Lebensgefahr. Aber manchmal gibt es sie ja auch, diese speziellen Momente, die für die „Qualen“ „entschädigen“: „Overnight“ ist so einer, klingt so wenig kaputt und so konzentriert, wie es im Goslings-Soundkorsett nur möglich ist, und ist so eine höchst gelungene Symbiose aus Schmerzverursacher und Morphium.

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2008: Menace Ruine aus Montreal veröffentlichen ihr zweites Album „The Die Is Cast“, ihre dritte Veröffentlichung in einem Jahr und bis „Union of Irreconcilables“ (2010) für eine verhältnismäßig lange Zeit ihre letzte. Jenes TDIC darf man dabei ohne Zugeständnisse oder schlechtes Gewissen als eines der originellsten Alben der jüngeren Vergangenheit bezeichnen. Gewiss, die Musik ist nicht aus dem Nichts entstanden, doch weder hatte es die hier dargebotene Stilkombination in dieser Form zuvor noch in den Jahren danach gegeben. Das musikalische Fundament bildet meist standesgemäß dumpf, dabei aber gemäßigt dissonant und warm klingender, farbenprächtig schimmernder Drone Doom. Das Drumming, teilweise auch die verwendeten Instrumente und die Art, wie sie gespielt werden, haben aber ein mittelalterliches Flair und der über allem thronende Gesang von Geneviève erinnert vom Ausdruck her stark an Nico. Die Melodien, die sie intoniert, sind schlicht und ergreifend, brennen sich sofort ins Bewusstsein und breiten sich aus über dem verwüsteten Land. Kernstück des Albums ist das fast 17-minütige „The Bosom of the Earth“. Die Black Metal-Elegie verweist auf die musikalische Vergangenheit des Duos und baut aus wenigen in sich verlaufenden Tönen und fußend auf stürmisch rauschenden Blastbeats ein Klangkaleidoskop von beeindruckender Farbenvielfalt auf.

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Die Jahreszahlen, die ich zur Strukturierung meines Artikels verwendet habe, mögen vielleicht einen anderen Eindruck erwecken, doch der sogenannte „Dronegaze“ ist keine einheitliche oder gar nach Möglichkeiten eigenständige Szene wie der Drone Doom. Vor allem dank des Southern Lord-Imperiums hat sich da im Unterschied zu Dronegaze mittlerweile ein beachtliches personelles Netzwerk entwickelt. Für die Subszene Drone-/Doomgaze, die keine ist, gibt es im Grunde noch gar keine einheitliche Bezeichnung. Dieser spezielle Sound entsteht in der Mitte von viel zu weit auseinanderliegenden Koordinaten, um ihn eindeutig definieren zu können. Dazu zählen Cocteau Twins‘ Ethereal Wave-Referenzwerk „Head Over Heels“ genauso wie viele Alben der Swans, an denen musikalische Schubladenfetischisten und Buchhalters of Rock’n’Roll bis heute verzweifeln, Merzbow’sche Noise-Vorarbeit genauso wie die Klangästhetik des Frühneunziger-Debütalbums der sträflichst unterbewerteten The God Machine, Black Metal nach dem Ausklingen der Zweiten Welle genauso wie Neurosis.
Entsprechend vielfältig und untereinander verschieden gerät die Musik aus den Randbereichen; im Black Metal haben vor allem [B]Enmerkar mit ihrer 2009er-EP „Starlit Passage“ auf sich aufmerksam gemacht. In den fünf darauf enthaltenen Stücken weben sie einen engmaschigen, schummrig-warmen Gitarrenteppich und spielen Melodien, die teilweise durchaus an die elysische Schönheit von The Angelic Process erinnern. Der durchaus sehr aggressive Ambient Black Metal von [B]Darkspace funktioniert nach einem ähnlichen System, melodieführend sind eisige Keyboards. Wer „The Work Which Transforms God“ von [B]Blut aus Nord kennt, wird angesichts der Melodieführung bei Nadja und The Angelic Process vielleicht ein Déjà-vu erleben. [B]Wheels Within Wheels werden gemeinhin mit Black Metal assoziiert und kommen veröffentlichungstechnisch bisher auf nicht viel mehr als eine Split mit Panopticon. Der darauf enthaltene, hochdramatische Drone Doom Metal/Shoegaze überbringt einem die Kunde vom Weltuntergang durch die Blume und ist in einem Zustand von ständig fortschreitendem Zerfall; Wände fallen zusammen, überall Explosionen. [B]Have A Nice Life haben 2008 ausschließlich im digitalen Format „Deathconsciousness“ veröffentlicht. Auf ihrem Debüt-Doppelalbum changieren sie zwischen Heldenverehrung (offensichtlich: Swans und Joy Division), besseren Jesu und Blick in die Zukunft. Die Franzosen von [B]Year of No Light lassen 2010 mit „Ausserwelt“ ihren Sänger und ihre vergleichsweise behäbige Sludge-Vergangenheit hinter sich. Das Orchester für den Tag des jüngsten Gerichts verfügt unter anderem über drei Gitarristen und zwei Schlagzeuger und ist teilweise in der Lage, durch die Melodien eine Tragik und erhebende Schönheit zu transportieren, die fast an The Angelic Process heranreicht. Das kurzlebige Soloprojekt [B]Murmuüre veröffentlicht ebenfalls 2010 eine dreißigminütige, selbstbetitelte EP. Die Stücke, Produkte von Verzweiflung, durchdrehenden Effektgeräten und Gitarrenimprovisationen, streifen teilweise den Black Metal, ihre Melodien sind dabei immer mit grobkörnigen elektronischen Schimmerflächen versehen. Unter dem Begriff Neoshoegaze laufen Adrenalinkicks von [B]Health und effektbeladene The Jesus and Mary Chain-Verbeugungen von [B]A Place To Bury Strangers.

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Der Schmelztiegel von (Dark) Ambient, Drone und Shoegaze ist kein klar definierter musikalischer Bereich, zumindest aktuell aber genau deswegen so interessant. In einem Underground, der sich durch das Internet im Vergleich zur Situation von vor zehn Jahren stark verändert hat, ist dieses sich im Ursuppenstadium befindende eigentlich-nicht-Genre schon rein von seiner Idee her noch originell.
Was ich persönlich dabei nicht ganz nachvollziehen kann: im Vergleich zu Bands wie Sunn O))), Earth und Khanate haben beispielsweise Nadja und The Angelic Process einen deutlich niedrigeren Bekanntheitsgrad, die Musik letzterer Formationen ist dabei aber durch den Einsatz von Melodien und klaren Rhythmen und Strukturen, wenn man so will, konventioneller und zugänglicher. Das Vorurteil, Drone Doom sei mit bloßem Geräusch gleichzusetzen, kann dadurch ganz einfach entkräftet werden. Denjenigen, die dieses Vorurteil bis jetzt hegten, empfehle ich, ein paar der vorgestellten Bands mal ein Ohr zu leihen. 🙂

PS: Wie lang darf so ein Beitrag in diesem Forum eigentlich maximal sein? In stark gekürzter Fassung habe ich den Guide to Mädchendrone schon mal woanders veröffentlicht, wollte fragen, ob es hier auch eine Grenze gibt, an die ich bloß noch nicht gestoßen bin…