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Eine kurze Geschichte von Paula über eine angebliche direkte Nachfahrin von Erik „Blutaxt“ I., zerschnittene Arme, blaue Augen, enttäuschte Liebe und die gleißende Sonne Kaliforniens
Spricht man im Indiekontext aktuell von einem Retrotrend, dann meint man damit vor allem, dass viele Bands und MusikerInnen ihre kreativen Auswürfe mit deutlichen 80er-Bezügen ausstatten. Das kennt man vom Post-Punk-/Dark Wave-Revivalismus von Interpol, Editors und Konsorten, aber auch die Singer-Songwriter-Damenriege gab sich in den letzten Jahren gerne den Anstrich der Nachlassverwalterinnen. Künstlerinnen und Bands wie Soap&Skin, Zola Jesus sowie aktuell Esben and the Witch und Austra beziehen sich in ihrem Schaffen mehr oder weniger eindeutig auf Siouxsie and the Banshees, Cocteau Twins, This Mortal Coil und Nico, die erste Grande Dame des Gothic, bevor es Gothic überhaupt gab (äh, zum besseren Verständnis: Nico = 60er-/70er-Ausnahme). Dies veranlasste schon große Teile des Feuilletons (komischerweise nicht die dafür „zuständige“ Szenepresse), von einer Renaissance zu sprechen, neuen großen Sternen am schwarzen Firmament.
EMA wird mit ihrem Solo-Debüt „Past Life Martyred Saints“ vermutlich noch oft mit ebendiesen Bands und Sängerinnen in Verbindung gebracht werden, doch die wichtigsten Unterschiede ergeben sich daraus, dass sie ihre Haupteinflüsse schon aus dem folgenden Jahrzehnt bezieht.
Im Gegensatz zu den Goth-Revival-Blassnasen verbringt sie ihre Tage und Nächte nicht in den stickigen, abgedunkelten Räumen des „Batcave“ in England, sondern an der sengenden Sonne Kaliforniens. Der Klang ist hell und heiß, das Fundament eindeutig Rock, die generös noisige Verzerrung stößt die Gitarren nicht selten in Richtung Stoner. Das klingt teilweise nach dem Slackerindie von Pavement und den zutraulicheren 90er-Arbeiten von Sonic Youth, der noch bodenständige Shoegaze/Dream Pop von Slowdive – Souvlaki huscht ebenso kurz durchs Bild wie die ernsten und düsteren Momente von Lush und selbstversunkener Slowcore. Vor allem aber macht sich Erika M. Anderson am Grunge und Riot Grrrl zu schaffen und holt nachträglich heraus, was schon immer in beiden Bereichen steckte. Hier hätten damalige Szeneprotagonisten allen Grund, sich zu ärgern, dass sie diese Songs nicht geschrieben und das Ausdrucksspektrum des eigenen Wirkungsbereichs übersehen haben.
Nun wäre „Past Life Martyred Saints“ aber ein Vergnügen mit nicht weiter erwähnenswerter Halbwertszeit, wenn es lediglich eine postmoderne Reise durch Madame Andersons gut sortierte Plattensammlung wäre. Um die Ansammlung von Zitaten zu mehr, zu genuiner Kunst zu machen, braucht es eine, die dem ganzen Kram Leben und Charakter einhaucht; EMA schafft dies, macht das ganze komplexe Netz aus Referenzen vergessen, das Blogger und Journalisten um sie herum gesponnen haben. Für 38 Minuten ist nichts wichtiger als das, was sie zu sagen hat, weil einen diese sonore, sinnlich tiefe, kraftvolle Stimme, die einem immer und gerne zu nahe kommt, sofort von diesem Lauf der Dinge überzeugt. Bevor es zu diesem Album überhaupt kommen konnte, musste Anderson sich ein Jahr lang durch konzentrierte persönliche Tiefschläge kämpfen. Ihre erste Band Gowns, mit der sie unaufgeräumte, freiförmige Stücke zwischen Freak Folk und elektronischem Unrat aufgenommen hat, zerbrach mit der Beziehung zwischen ihr und Bandmitglied Ezra Buchla, die Liebe und die Trennung spiegeln sich in vielen der hier zusammengekehrten Songscherben. Fast wären ihre Solo-Ambitionen lediglich „Little Sketches On Tape“ geblieben, die Rettung durch eine Labelanfrage kam quasi im letzten Moment. Es ist mir zwar unangenehm, ihr dieses dezent blöde Authentizitätsstigma anheften zu wollen, aber möglicherweise wäre „Past Life Martyred Saints“ nicht so gut geworden, hätte Anderson dieses Tal nicht durchschritten.
Es ist eine disparate, zerwühlte Platte geworden, die als Album vielleicht gar nicht so gut funktionieren dürfte, wie sie es tut. Konsequenz ist doch ein albernes Konstrukt, schon die Überkategorie Lo-Fi lässt sich auf PLMS nicht anwenden, weil Anderson nicht alle Songs im Schlafzimmerzustand belassen wollte. Der Opener „The Grey Ship“, die vielleicht schönste und betörendste Songwelt des Jahres, ist ungeahnt filigran, sucht nach Lagerfeuer-Anfang nach der verwunschenen Bassline, die sich davongestohlen hat und sich im Gebüsch versteckt. Bevor das Stück Warpaint oder einem schwebend schönen Finale zu nahe kommen kann, holt EMA die Gitarrenbrechstange raus, und am Ende gibt es doch den Rückzug in sich selbst mit gebrochenen Knochen und Willen. „Great grandmother lived on the prairie / nothing and nothing and nothing and nothing / I got the same feeling inside of me / nothing and nothing and nothing and nothing“. Ausgerechnet „Marked“, dieses Homerecording-Songfragment, ist dann klanglich annähernd genauso beeindruckend. Den alten Gowns-Song befreit EMA von allem Müll und Seetang, der im Original an ihm hing und ihn ausmachte, in der neuen Version findet er auf engstem Raum statt, versteckt im Wandschrank als Kerzenfeuer in den Händen. EMA legt dazu die Hände auf die Schultern des Hörers und flüstert ganz nah und ganz sanft an sein Ohr. „I wish that every time he touched me left a mark.“
Wer je eine bessere musikalische Verarbeitung von autoaggressivem Verhalten finden sollte, der soll mir Bescheid geben. Im übernächsten Song „Butterfly Knife“ singt Anderson mit so viel Wut, wie sie auf einmal ausspeien kann, über ein Goth-Kid an ihrer früheren High School, „Marked“ widmet sich ihm mit mehr Verständnis als alle seine mutmaßlichen Lieblingsbands. Überhaupt zieht sich die Körperlichkeit durch das ganze Album, Erika M. Anderson ist hier eine einzige offene Wunde. Was könnte besser als Code dafür geeignet sein, psychisch auf harten, brennend heißen Asphalt zu fallen, als blaugeschlagene Augen, aufgeplatzte Lippen, fließendes Blut, gebrochene Knochen? Solange man „Past Life Martyred Saints“ hört und von seinem Nachwirken eingenommen ist – tatsächlich nichts. EMA macht keinen Unterschied zwischen Zärtlichkeit und Brutalität, Verletzlichkeit und Angriffslust. Das äußert sich einerseits in der Art, wie bei „Anteroom“ und „Breakfast“ ätzender Gitarrenkrach die Ruhe stört. Andererseits kommt der innere Widerspruch auch in „California“ durch, der Blues-verwurzelten beinahe-Hymne, bei der Anderson mit gebündelten Kräften Unmengen an Galle über diesem zerstörerischen Moloch von Land ergießt und doch nach jeder Zeile näher am Kollaps scheint. Diese Herangehensweise steht eindeutig in der Tradition von „Rid of Me“, dem extrem gewalttätigen, sexualisierten, wahnsinnigen, ultimativ schmutzigen Seelendreck-Album einer jungen PJ Harvey, die aktuell mit Geisterwaldfolk gegen ihre Heimat England ins Feld zieht. Es geht auch hier im Grunde um Liebe – enttäuschte Liebe – und die Erlösung im Schmerz. Und die gibt es hier tatsächlich an genau der richtigen Stelle. Schlusssong „Red Star“ glänzt mit Stonergitarre und nur scheinbarer Entspannung, denn im Finale denkt Anderson nicht mal daran, auch nur verbrannte Erde zurückzulassen. Soll die rote Sonne den blauen Planeten doch verschlucken. Augen immer schön offen halten; wer blinzelt, verliert. Brennende Netzhaut hat sich aber auch selten so ekstatisch und schön angefühlt. Die finale Lichtexplosion klingt dann tatsächlich nach „Seven“ von The God Machine (deren „Scenes From The Second Storey“ immerhin das beste Album aller Zeiten ist). „If you won’t love me someone will.“
Zu groß und zu wichtig, um nach der Jahresbestof vergessen zu werden. Wollen wir hoffen, dass EMA eine ebenso lange Karriere bevorsteht wie der Dame, mit der sie sich momentan noch messen muss.
http://www.youtube.com/watch?v=m0NJm8v7POs
http://www.youtube.com/watch?v=WJJdJlMik30
http://www.youtube.com/watch?v=4iU4sdQM05g
http://www.youtube.com/watch?v=3tm89S22H_g
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trying to leave [COLOR=#808080]a mark more permanent than myself[/COLOR]