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Das letzte Review ist mehr als drei Monate her. Hier muss wieder Normalität einkehren. In diesem Sinne: Herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe der Umkleidekabinenpeepshow, in der Paula euch eine kurze Geschichte über ein Schlüsselwerk des New Wave erzählen wird.
Talking Heads – Remain In Light
„So ein Album schreibt eine Band, wenn überhaupt, dann nur einmal im Leben.“ – diese blödsinnige Floskel wird zu oft verwendet, die Leute denken zu selten über sie nach, und je öfter sie verwendet wird, desto wertloser wird sie. In diesem speziellen Fall muss ich aber auf sie zurückgreifen, sie zum Dreh- und Angelpunkt meines Albumkommentars machen, denn mir würde für sie kein besseres Sinnbild einfallen. „Remain in Light“, das vierte Album und das Meisterwerk der Talking Heads, ist so sehr wie kein anderes Album, das ich kenne, Produkt einer einzigartigen und unwiederholbaren Konstellation von Begleitumständen, unter denen die Band sich zudem auf dem Höhepunkt ihres Könnens zeigt.
Auch ohne Vorwissen bekommt man beim Hören eine Ahnung, dass gerade eine Aufzeichnung von etwas höchst Seltenem läuft. In seiner schwindelerregenden und endlos faszinierenden Perfektion stellt „Remain in Light“ ein überaus labiles Gleichgewicht her. Die musikalische Grundprämisse war, die verschiedenen Einflüsse der Talking Heads einerseits konsequent auszuformulieren, andererseits zu verknüpfen. Bei einem so weiten, so widersprüchlichen Stilkonglomerat ist das eine Organisationsaufgabe, an der andere Bands der Post-Punk-/New Wave-Bewegung zwar nobel, aber eben doch gescheitert sind. Die Lösung ist hier Gleichzeitigkeit. Afrikanische Rhythmen, Funk-Gitarren, europäische Maschinenelektronik und rudimentäre Rockreste haben hier einen gemeinsamen Herzschlag. Dieser Herzschlag ist das Grundmuster hinter dem Kulturenkanon, bei „Remain in Light“ fast so etwas wie eine spirituelle Einheit. Das rituelle Trommeln und die körperbetonten Funk- und Discorhythmen aus Kulturen, die dem weißen Mittelstandsamerikaner Anfang der 80er immer noch wie eine fremde Parallelwelt erschienen, verschmelzen hier mit dem Geräuschteppich der modernen Welt. Einleitungsmelodien für Nachrichten, Schlussglocken an der Wall Street, unablässige Datenströme, getaktete Bewegungen am Fabrikfließband. Alles hier ordnet sich einer fehlerlosen Regelmäßigkeit unter. Der Gesang von David Byrne bietet zwar Identifikationsfläche, wenn er (wie im wohl bekanntesten Song des Albums „Once In A Lifetime“) mit neurotischen Nachrichtensprecher-auf-Kokainüberdosis-Phrasierungen dem Takt nicht folgt, doch so etwas passiert selten.
Das ist aus Hörersicht bewundernswert als Beweis dafür, wozu die sogenannte moderne Welt (beziehungsweise: die Umbruchsgesellschaft der späten 70er und frühen 80er) imstande ist, aus demselben Grund aber auch bedrückend. „Remain in Light“ konfrontiert einen nämlich, gerade, was die Texte angeht, auch mit der existenziellen Angst, dass irgendwann einmal der Ärmel steckenbleibt und man mitgerissen und zermalmt wird vom Maschinenorganismus, der mächtiger und weitreichender ist, als ein einzelnes Gehirn es sich vorstellen kann. Man könnte den von weißen Kunsthochschulennerds assimilierten Funk im musikalischen Gefüge von RIL als letztendlich kläglichen Fluchtversuch aus einer überfordernden Umgebung werten. Doch (Sub-)Kulturen jenseits vom europäischen und amerikanischen Popmainstream interessieren David Byrne hörbar mehr als nur in der Funktion von postkolonialistischen Kurorten. „Listening Wind“ ist noch vor der Joy Division-Hommage „The Overload“ der geisterhafteste und beunruhigendste Song des Albums, und wäre „Apocalypse Now“ ein paar Jahre später veröffentlicht und nicht aus der Perspektive der Amerikaner erzählt worden, der Song wäre mit seinen tropischen Synthieschwaden der perfekte Kandidat für den Soundtrack gewesen.
Es geht in diesem Fall aber nun doch besser mit Vorwissen, und dieses bestätigt die Ahnung, die das bloße Hören vermittelt. Der große Organisator war Brian Eno, das dominierende Produzentengenie der 70er, der zuvor schon der Karriere von David Bowie eine gänzlich neue Richtung gegeben hatte. Produzenten hatten vor mehr als 30 Jahren generell einen größeren Einfluss auf das musikalische Endprodukt, als aus heutiger Sicht nachvollziehbar wäre, Eno allerdings war eine Klasse für sich, ein obsessiver Stanley Kubrick der Klangregler. Mit Hauptsongwriter Byrne entwickelte sich eine fruchtbare Kooperation, die auch noch über die Talking Heads hinaus andauerte, die übrigen Bandmitglieder wurden während des Aufnahmeprozesses mehr oder minder zu Sessionmusikern degradiert. Jeder einzelne musste unwahrscheinlich viele einfache Motive einspielen, die von Eno geloopt und in Zusammenarbeit mit Byrne zu Songs zusammengesetzt wurden. Befreit von den Beschränkungen eines organischen Entstehungsprozesses, wuchsen die Stücke so zu Monstern aus 30 bis 40 Klangschichten an. Eine radikale und innovative Aufnahmemethode, die nicht ohne Opfer blieb: im Grunde genommen hörten Talking Heads 1980 auf, eine Band zu sein. Ein Album wie „Remain In Light“ ist live unmöglich zu reproduzieren (was 1984 mit dem Konzertvideo „Stop Making Sense“ dennoch versucht wurde). Innerhalb der Band bildeten sich zwei Lager: die Diktatoren Byrne und Eno, damals fast schon ein fünftes Mitglied, einerseits, und andererseits der unzufriedene Rest, der von der fernen Kreativzelle Befehle empfing. Eno und Byrne opferten die Band, um ein übermenschliches Maß an Vollkommenheit zu erreichen. Die Mehrheit der Beteiligten wollte nicht wieder Teil eines so verlustreichen und belastenden Prozesses sein. Nach drei Alben wurde Eno als Produzent gefeuert, die Talking Heads orientierten sich in eine eher massenkompatible Richtung und erlangten 1983 schließlich mit „Burning Down The House“ endgültig ihren kommerziellen Durchbruch. Einen Weg zurück gab es von diesem Punkt aus nicht mehr. So ein Album schreibt eine Band, wenn überhaupt, dann nur einmal im Leben.
http://www.youtube.com/watch?v=bVUOVRFyiNY
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trying to leave [COLOR=#808080]a mark more permanent than myself[/COLOR]