Home › Foren › METAL HAMMER’s Ballroom › Talkpit › Die Tragödie von Oslo › Re: Die Tragödie von Oslo
Die Entwicklung einer Kultur ist nicht ein einmaliger schöpferischer Akt, sondern ein langer Prozess. Deswegen geht es in solchen Fragen, wie wir hier eine diskutieren, weniger um Entscheidungen des Einzelnen denn um ein kulturelles Erbe. Der Begriff “Erfindung“ ist in diesem Rahmen völlig falsch.
Kurzum,
“Die Geschichte zeigt uns, dass die Staaten, die Religionen, die Kirchen, alle großen Institutionen, die einzigen Mittel sind, durch welche der tierische und wilde Mensch sein geringes Teil Vernunft und Gerechtigkeit erwirbt.“ (Hippolyte Taine).
Daneben sei auch auf die Schriften des Verhaltensforschers Konrad Lorenz verwiesen, der die These vertreten hat, die Methode, “mit welcher unter dem vielen Angebotenen das Festzuhaltende ausgewählt wird“ sei in Art- und Kulturentwicklung dieselbe, “nämlich Auswahl nach gründlicher Erprobung.“.
Das noch einmal zur Begründung der These, dass Alltagskultur immer den momentanen Stand einer fortschreitenden Entwicklung darstellt. Man kann nicht behaupten, wir lebten in einer permissiven Gesellschaft, obwohl unsere Kultur geschichtlich viel rigider war ist. Im Gegenteil. Unser moralisches Empfinden kommt nicht aus dem Kopf – Ideen kommen und gehen – sondern tief aus den Eingeweiden. (Das ist natürlich bildlich gesprochen). Geordnetes und interessengerechtes Zusammenleben basiert immer darauf, dass die Spielregeln klar sind. Ganz einfach. Und die werden nicht alle zwei Wochen oder nach Großwetterlage neu ausgehandelt. Wenn wir nun die “Freiheit“ derart hochhalten, dass wir nicht mehr bereit sind, einen Wert, der das Individuum transzendiert, auch ernstzunehmen, mag das eine Zeitlang schon gutgehen. Letztlich wird aber so das von zahllosen Generationen geschaffene Fundament aufgezehrt.
Den Fehler, den du machst, hat Lorenz übrigens so beschrieben:
“Der Irrglaube, dass nur das rational Erfassbare zum festen Wissensbesitz der Menschheit gehöre, wirkt sich verderblich aus. Er führt die ‚wissenschaftlich aufgeklärte‘ Jugend dazu, den ungeheuren Schatz von Wissen und Weisheit über Bord zu werfen, der in den Traditionen jeder alten Kultur enthalten ist. Wer da meint, all dies sei null und nichtig, gibt sich folgerichtig auch einem anderen ebenso verderblichen Irrtum hin, indem er in der Überzeugung lebt, Wissenschaft könne selbstverständlich eine ganze Kultur mit allem Drum und Dran auf rationalem Weg erzeugen.“
So viel zum Terminus der Rückständigkeit – so einfach ist das alles nicht. Ob man die Sterbehilfe und die Abtreibung deshalb ablehnen muss, ist eine ganz andere Frage. Aber die Affekte, die in solchen Angelegenheiten eine überragende Rolle spielen, sind an sich überhaupt nicht rückständig, unethisch oder obsolet, sondern meistens gut begründet auf einer Ebene, die dem Einzelnen und seiner naturgemäß eng begrenzten Verstandeskraft übergeordnet ist. Die Frage ist nicht, ob und wie man es begründen kann, dass man sich gegenseitig so oder anders behandeln solle. Jede Art einer solchen Begründung ist nur einem tief verankerten sozialen Imperativ nachgeschoben – also nicht das Eigentliche. Unsere moralischen Überzeugungen sind aus unserer eigenen Perspektive ungerechtfertigt und können auch gar nicht gerechtfertigt werden.
“Die wahre Rechtfertigung für ein Vorurteil ist diejenige, die es als Vorurteil rechtfertigt statt als rationale Schlußfolgerung aus einem Argument. Mit anderen Worten handelt es sich um eine Rechtfertigung, die nicht aus unserer eigenen Perspektive, sondern nur von außerhalb durchgeführt werden kann, so wie zum Beispiel ein Anthropologe die Sitten und Rituale eines fremden Stammes rechtfertigen könnte.“ (Roger Scruton über Edmund Burkes Verteidigung der Vorurteile)
Daher ist es immer ein Leichtes, dem Konservatismus vorzuhalten, er gehe nicht mit der Zeit, verweigere sich den Realitäten, sträube sich gegen die Gebote der Vernunft etc. Die wahren Motive und tiefsitzenden Instinkte unseres Verhaltens beruhen nämlich gar nicht auf einer individuell durchdachten Rechtfertigung. Davon ausgehend halte ich auch den Begriff der “aufgeklärten Gesellschaft“ für unbrauchbar. Und um schließlich zum Ausgangspunkt der Disputation zurückzufinden: du bist im Unrecht, wenn du sagst, der Islam müsse einfach mal – ganz so, wie das Christentum – vernünftig überprüft und in allen problematischen Aspekten revidiert werden. So einfach (ich wiederhole mich) ist das nicht
--