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Ilonicht dein ernst?
Deswegen:
http://www.youtube.com/watch?v=gCdTsOaa6W0
Nein, das Album befindet sich immer noch nicht in meinem Besitz. Und ja, ich schäme mich ein bisschen.
9. Heinali and Matt Finney – Ain’t No Night
Eine weitere Nadja- und Jesu-Schmelztiegelmischung im Schrank zu haben, wäre zwar nett, aber nicht weiter notwendig. Nun ist man aber auch bereit, auf Dronegaze als Grundlage zu beginnen und weit über sie hinauszugehen. Matt Finneys geflüsterte Spoken Word-Parts stutzen den Kompositionen die Flügel, das wird diejenigen anfangs stören, die sich eigentlich bedingungs- und kopflos in der Musik verlieren wollten, aber das Eindämmen von Pathos macht die Sache hier erst so angenehm ungewöhnlich. Über weite Strecken werden Stimmung und Geschehen von den Texten dominierert, die sich irgendwo zwischen Charles Bukowski und „The Dead Flag Blues“ einfinden. Das geht so weit, dass aus dem Titeltrack eine verschleppte, rostüberzogene Bluesnummer wird, Trailerparks und Leichte-Mädchen-Drone. Wenn das, was Finney in sein kaputtes Diktiergerät spricht, mal keine so große Reichweite hat, hat Heinali freiere Hand beim Gestalten, der Opener „In All Directions“ steuert letztendlich auf eine schlichte und schöne Melodie zu. Das können sie gut, andere aber ein bisschen besser. Die beiden sollten fürs nächste Mal in den Trailerparks bleiben.
http://www.youtube.com/watch?v=kUPcu5loSvA
8. Nils Petter Molvaer – Baboon Moon
Ein Pavian mit allzu menschlicher Mimik auf dem Cover, grau in grau. Es mag die Vielfalt und Dynamik dieser Musik ignorieren, unterstreicht ihre Stimmung nichtsdestotrotz. Der ätherische Ambientjazzrock von Nils Petter Molvaers neuer Band (unter anderem mit Ex-Mitgliedern von Madrugada & Motorpsycho…nicht, dass ich von den alten Besetzungen mehr als insgesamt einen Song kenne) ist so dezidiert nordisch, dass man sich die Musik gar nicht in einer anderen Umgebung vorstellen kann als zwischen Geysiren unter einem schweren, grauen Himmel. Molvaers Trompete und die gezielt eingesetzten Gitarren bringen die elektrische Spannung in die dampfigen Klangtexturen, das Tänzeln der Drums lässt ein Beben im Boden entstehen. Zwischen den einzelnen Stilelementen gibt es keine Nahtstellen, auch dann nicht, wenn die Stimmung kippt und vor Spannung vibrierende, aber in sich ruhende Songs den Naturgewalten überlassen werden – wie im Titelstück, dessen ungehaltene Tribaldrums und ätherischer Hintergrundgesang ihn zu einem der besten Songs des Jahres machen.
http://www.youtube.com/watch?v=7XbfGHB7cfE
7. La Dispute – Wildlife
Wenn die zuständigen Internet- und Print-Medien ihre Jahresbestenlisten veröffentlicht haben und sich anderem, also dem Jahr 2012 widmen können, werden La Dispute sich möglicherweise fragen, ob besagte Medien (und sie sich selbst) ihnen wirklich so einen großen Gefallen getan haben. Mit „The Wave“ und so. „Wildlife“ ist der beste Beleg für die Sinnlosigkeit des Unterfangens, einen musikalischen Rückschluss auf sich selbst mal wieder in größere Zusammenhänge zu überführen. Kein anderes Album würde dadurch gefühlt mehr missverstanden werden. Ja, es ist wahrscheinlich einfach und reizvoll, im drahtigen, rockinduzierten, strukturell verschnörkelten Posthardcore von La Dispute zu irgendwas eine Gegenthese zu sehen. Eine Gegenthese zu strenger Ordnung, zum kürzesten Weg, weil man die interessantesten Dinge auf Umwegen und Abzweigungen findet. Eine Gegenthese zu Slogans, zu Aphorismen, zu Tattoos, zu Textzitaten in Statusnachrichten. Die Songtexte von Jordan Dreyer sind unhandliche Prosablöcke, die beim Lesen nicht gerade dazu einladen, gesungen zu werden. Umso seltsamer, dass sie erst nach der Musik formuliert wurden (die sich wiederum nach der jeweiligen Geschichte und Stimmung richtete). Daniel Gerhard hat in seinem Review für Visions die Wörter gezählt, es sind 6000, von denen wenige wiederholt werden und man sich keins hätte sparen können. Überhaupt Wiederholung: „Wildlife“ könnte ja auch eine Gegenthese zur herkömmlichen Kompositionsmathematik sein. La Dispute haben kapiert, wann das Strophe-Refrain-Strophe-Schema eher Barriere als Stützgerüst ist, und lassen’s sein. Wenn etwas wiederholt wird, dann aus größter Not heraus und nicht der Form halber.
Aber das zieht man alles beim Hören am besten gar nicht in Betracht, blendet aus, dass es für „Wildlife“ außer einem selbst überhaupt noch ein Publikum gibt, und nimmt an, dass Außenwirkung das Letzte war, woran La Dispute beim Komponieren gedacht haben. Die Stücke von „Wildlife“ haben einen eigenen Mikrokosmos, in dem jede Eigenschaft des Albums ein Zahnrad im System ist. Dieser Mikrokosmos ist die Realität der Kurzstorys Jordan Dreyers, eine Realität, deren Wirkungsgrad nicht über Grand Rapids, Michigan hinausreicht, aber das soll er auch gar nicht. Diese wahren Storys gehören ihm und der Stadt. Es sind Storys über Menschen, die bei 200 km/h aus einem Auto auf die Fahrbahn geschmissen werden, dessen Kennzeichen „LI FE“ lautet. Narbenübersäte Väter mit schizophrenen Söhnen, sterbende Kinder, unschuldige Opfer von Krebs und Drive-By-Shootings. Absurde Grausamkeit, keine Happy Ends, keine poetische Gerechtigkeit, sogar die Trotzhoffnung und die Erkenntnis des Erzählers gibt es hier nur, wenn man sie sich wirklich wünscht. Can I still get into heaven if I kill myself? Dreyer hat nicht einmal die Gnade, eine Frage zu formulieren, die sich wenigstens nicht beantworten lässt. Nun gibt es hier aber keine Zeit und keinen Raum, sich abzukoppeln, hinzusetzen, das Gesicht in die Hände zu legen und zu heulen, weil ständig zu viel passiert. Es gibt kaum wirkliche Katharsismomente in der Musik, der Gesang ist dieses posthysterische, erschöpfte Restschreien, das zeigt, dass noch lange nicht alles zu Ende ist. Also weitermachen, in Bewegung bleiben, das Schlimmste verhindern, bevor man sich seiner eigenen Angst gewahr wird.
Hier kann man kaum einen Schritt zur Seite tun aus dem Zusammenhang, in den man eingespannt ist. Jordan Dreyer versucht es durch die auktoriale Erzählperspektive. (Auf-)Schreiben führt zu Bewusstwerden, Bewusstwerden zu Erkenntnis. Schreiben lässt hier etwas zu Kunst und Wahrheit werden, Schreiben schlägt die Wahrheit aus dem Stein. Dreyer berichtet über das Schreiben, die Reflektion und die Innenperspektive in den zwischen die anderen Songs eingestreuten Monologen, verliert dabei den vermeintlichen Punkt aus den Augen, vergisst Empfänger, seine Absichten, sich selbst. Nichts ist hier sicher vor dem ätzenden Zweifel, Dreyer löscht schreibend Grand Rapids, die Welt und sich selbst aus, ohne sie zu hassen. Das Gelingen dieses Unterfangens ist nichts, was einen mit einem guten Gefühl hinterlässt, dafür aber mit dem Gefühl, gerade etwas tatsächlich Wichtiges gehört zu haben.
http://www.youtube.com/watch?v=BUJScmvFmSM
6. Ash Borer – s/t
Nach der sehr kurzen, jedoch auch größte Krater hinterlassenden Laufbahn von Weakling begann sich in den USA langsam eine neue Black Metal-Szene zu formieren. Eine dritte Generation, die den Begriff durchaus puristisch, dabei aber entschieden anders als die Europäer auslegt. Minimalismus ist keine Schranke für die Größe der Ideen. Spartanisch instrumentierte, manchmal zwischen wenigen Tönen stattfindende Stücke hatten Cinemascope-Format. Längst hat die kaskadische Szene ihre eigenen Zeichencodes etabliert, in denen vor allem der Naturbezug eine große Rolle spielt. Ein jüngeres Projekt, dessen Problem bisher immer eine vergleichsweise schlecht ausgebildete eigene Handschrift war, verwandelt ihre Werktreue nun zu ihrem Vorteil. Nach einem Demo und einer Split mit Fell Voices stellen Ash Borer sich auf ihrem Debütalbum als die einzig legitimen Erben Weaklings dar, denn sie haben sie verstanden.
In den zwischen acht und 19 Minuten langen Songs findet sich rasende Wut neben ebenso rasender und panischer Verzweiflung und Angst, aber auch Momenten von Erhabenheit und Erlösung. Genau wie ihre offensichtlichen Vorbilder beherrschen Ash Borer es tadellos, dem Hörer eine geladene und entsicherte Pistole an die Stirn zu halten, ihm ein Gefühl des freien Falls zu vermitteln. Sie haben sich mittlerweile aber auch ein Mindestmaß ein Eigenständigkeit erarbeitet, denn die Stücke lassen neben Black Metal der vergleichsweise puristischen Ausführung auch perlende Post-Rock-Melancholie zu und unterlegen episch ausladende Melodiebögen teilweise auch mit einem aus dem Crustcore entlehnten Rhythmusfundament. Wohlgemerkt ohne ausgestellten Eklektizismus, diese Musik schließt ihn zwar nicht aus, hat ihn aber auch nicht nötig.
Wahrscheinlich nicht das nahezu perfekte Album, für das ich es kurz nach „Veröffentlichung“ (eine Geschichte für sich bei dieser komischen kleinen Untergrundszene) hielt. Dennoch ein Einlösen vieler Versprechen und doch auch ein guter Ausblick auf eine mögliche Zukunft.
http://www.youtube.com/watch?v=NlQET8Ymm6k
5. St. Vincent – Strange Mercy
Es ist ein verlockender Gedanke, dass Annie Clark (alias St. Vincent) und EMA, die ein anderes großes Singer-Songwriter-Album des laufendes Jahres herausgebracht hat, im Vorfeld auf dieselbe Highschool gegangen sind. Abgesehen davon, dass die faktische Sachlage dagegen spricht, wären sie einander dort aber vermutlich eh nicht begegnet. Ihr Zugang zur Thematik ist von Grund auf verschieden; wo Erika M. Anderson eine rostige, blutverschmierte Rasierklinge in ihrer Hand einschließt und mal schaut, was passiert, arbeitet Annie Clark mit einem frisch desinfizierten Skalpell. St. Vincent hat vom sogenannten Amerikanischen Traum mit den Cheerleadern und den Football Coaches und den Schönheitschirurgen und den multidysfunktionalen Zwischenmenschkisten durchaus ’nen leichten Knacks weg, erzählt auch darüber, ohne aber sich selbst zum Abschuss freizugeben. Noch lieber seziert sie diese ganzen merkwürdigen Leute von den Highschool-Abschlussbällen, holt die Geschwüre des Grotesken aus ihren Gummikörpern und hält sie unter Stroboskoplicht.
St. Vincent operiert mit musikalischen Mitteln, die die Songs mit gleichen Kräften sowohl Richtung Pop als auch Richtung Avantgarde zerren. Einerseits die strenge melodische Klarheit, das hochpräzise Herzschlagmetronom, das auch im Stolpern vom Titeltrack nie sein Ziel aus den Augen verliert. Andererseits ist die musikalische Ausgestaltung abenteuerlich widersprüchlich, denn hier trifft pastellfarbene Maschinenmusik auf Funkrock-Gitarren, die keine mehr sind, weil vor dem ersten Akkord der Achselschweiß weggetupft wurde. Im Spannungsverhältnis entstehen auf „Strange Mercy“ dabei die größten Hits, sei es die vergnügt zynische Single „Cruel“, das frenetische „Northern Lights“ oder das narkotisierende „Surgeon“, bei dem die Dosis am Ende aber dennoch nicht ausreicht, um nichts mehr von der Armamputation zu merken. Was natürlich völlig im Sinne der Erfinderin ist. Verantwortlich für diese gruselige Effizienz und die Mikrometerschärfe der Werkzeuge ist John Congleton, bekannt als Sänger der großartigen The Paper Chase und bekannter als Produzent von unter anderem Explosions In The Sky, Erykah Badu, The Appleseed Cast, Baroness, The Roots und Marilyn Manson. Ein wenig merkt man, dass Clark von ihrer Bühnenerfahrung mit „Age of Adz“-Sufjan Stevens profitiert hat. Im Gegensatz zu seinem elektronischen Kinderzimmer gibt es hier aber nichts, was den Eindruck eines Zufalls erwecken will.
Die für das Klangkonzept notwendige Unnahbarkeit und Unverwundbarkeit kann einen durchaus erst einmal einschüchtern, doch glücklicherweise lässt St. Vincent dem Hörer zumindest manchmal die „seltsame Gnade“ zuteil, nach der das Album benannt wurde. „Champagne Year“ darf in seinem harmonischen Schwebezustand bleiben, ohne vom sonstigen Bohren und Fiepen und Löten gestört zu werden, eine künstlich warme Roboterumarmung. Und dann verfügt Annie Clark auch über eine Stimme, die gerade aus dem Grund super zur Musik passt, weil sie in einer solchen Umgebung normalerweise nichts zu suchen hätte. Eine tiefe, elegante, verführerisch vibrierende klassische Bardivenstimme ist es, die hier so souverän durch das alltägliche Gruselkabinett führt, und sollte Clark irgendwann auf die Idee kommen, das Telefonbuch von Tulsa, Oklahoma rückwärts einzusingen, ich würde immer noch an ihren Lippen hängen.
http://www.youtube.com/watch?v=RGIbR5jdA58
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trying to leave [COLOR=#808080]a mark more permanent than myself[/COLOR]