Re: Jahresbilanz 2011: Highlights, Lowlights und alles andere

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palez

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@ilo: Hab dich auch lieb, alter Schleimer :haha:. Danke!

4. Subrosa – No Help For The Mighty Ones

Eines der eigenständigsten und besten Metalalben des Jahres kommt von einer Band, deren Mitglieder zum Großteil Frauen sind. Warum ich so tue, als sei das etwas Besonderes? Weil „No Help For The Mighty Ones“ alle Vorurteile gegenüber der Marke „Female Fronted Metal“ entkräftet und Kostverächtern den Wind aus den Segeln nimmt. Hier ist nichts lieblich, kitschig erst recht nicht, hier stehen keine Engel mit generösem Ausschnitt vor dem Mikrofon. Die Damen versuchen aber auch nicht, sich an den ganzen virilen Quatsch der Metalszene anzubiedern. Hirnlose Muskelspiele treten in den Hintergrund zugunsten von echter Kraft. Ihre eigene Identität haben SubRosa aber von vornherein und völlig selbstverständlich, mit dem ganzen Genderflohzirkus halten sie sich gar nicht erst auf, denn sie haben Größeres im Sinn.

Beispielsweise den Beweis, dass „retro“ nicht gleich „retro“ ist und vor allem nicht genug als Konzept und Haltung, um ein ganzes Album zu tragen. Man orientiert sich in Teilen durchaus daran, die grobschlächtige und sehr erdige Produktion zeigt ein grobkörniges Bild auf einer riesigen Leinwand. SubRosa sind jedoch keine Traditionalisten, keine Restauratoren und weit mehr als bloß Fans – sie klingen, als hätten sie wirklich etwa zu sagen.

Ihre Musik wird schon allein dadurch interessanter als das Groß der Stonerdoom- und Okkultrock-Konkurrenz, dass sie so herrlich unentspannt ist. Die Nabelschnur, die jene Stile mit der Mutter Bluesrock verbindet, wurde hier durchtrennt, Stücke wie „Beneath The Crown“ (früher Katharsismoment des Albums, der bei mir den Knoten zum Platzen brachte) brechen mit erstaunlicher Wucht über den Hörer herein. Genannter Schlüsselsong hat bei mir nebst wunden Oberschenkeln vor allem den Wunsch hinterlassen, Schlagzeug spielen zu lernen, denn er ist so körperlich mitreißend, dass der Wille des Hörers sofort bricht unter den Wagenrädern des nahenden Todes. Erstaunlich, wie weit die elektrisch verstärkten Streicher gegen ihre klanglichen Möglichkeiten anzugehen imstande sind, sie fräsen sich durch feuchte Erde und morsche Häuser und hinterlassen nichts als Verwüstung. Der Druck und die spürbare Anstrengung, mit denen die Instrumente auf NHFTMO eigentlich immer bearbeitet werden, lassen gar teilweise an Neurosis‘ 90er-Meisterwerk „Through Silver In Blood“ denken. Besonders in den Beschleunigungsparts klingt die Musik so gefährlich entfesselt und unaufhaltsam wie bei keinem vermeintlichen Genrekollegen. Eigentümlich und in höchstem Maße reizvoll ist dabei die feminine Note im Vortrag; hier werden ganze Städte niedergemäht, aber mit der Anmut eines Tanzes. Die elektrischen Violinen, die merkwürdigerweise oft wie ein Bläserensemble klingen, haben es, ebenso wie der beseelte Gesang von Rebecca Vernon, nicht nötig, exotisch zu klingen. Und vermitteln dazu eine Ahnung, wie My Dying Bride klingen könnten, würde Aaron Stainthorpe sie nicht regelmäßig in Rotwein und Pathos ersaufen.

http://www.youtube.com/watch?v=rw1wK9zIQhM&feature=related

3. Wolves In The Throne Room – Celestial Lineage

„Celestial Lineage“ also. Das vierte Album von Wolves In The Throne Room, das dritte im medialen Brennpunkt, in den bei weitem nicht nur die einschlägige Metalpresse die Band gerückt hatte. Siehe: Die sogenannte „Spiegel“-Kontroverse, die von lichtscheuen und besitzergreifenden Black Metal-Puristen unnötigerweise überhaupt erst zu einer gemacht wurde. Das letzte Album von Wolves In The Throne Room, das im bandinternen Selbstverständnis deshalb vielleicht wichtigste, weil es auch der Abschluss einer Trilogie ist. Das zweite, das die auf dem umjubelten Zweitwerk „Two Hunters“ gemachten Versprechen einlösen, und das erste, das die Enttäuschung, die auf „Black Cascade“ folgte, ausbügeln soll.

Es war dann ja doch kein gänzlich unplausibler Gedanke, der mir nach mehreren letztendlich ernüchternden Durchgängen von „Black Cascade“ in den Sinn kam; vielleicht sind WITTR doch nicht die großartigen Songwriter, für die ich sie zu halten bereit war. Was „Diadem of 12 Stars“ und insbesondere „Two Hunters“ ausmachte, war ihre Amosphäre, die Ahnung von feuchter Luft und knirschenden Zweigen, war ihr dunkler Schimmer und die wohligen Schauer, die er hervorrief, war das für seine Ansprüche beinahe perfekte Klangbild. Das wurde mir umso deutlicher bewusst, als das alles auf „Black Cascade“ fehlte. Ohne das letztendlich tragende vermeintliche „Beiwerk“ waren die Songs zwar immer noch gut und stilvoll, hatten aber viel von ihrer Faszinationskraft verloren, und wirkten zu kalt und gehalten, als dass Wolves In The Throne Room als die rabiatere Ausgabe ihrer Selbst funktionieren könnten.

Nun gab es bei „Celestial Lineage“ aber mehrere Paradigmenwechsel, und ich habe selbst im Vorfeld am wenigsten geglaubt, wie positiv sie sich auf die verfahrene kreative Situation im Hause WITTR auswirken würden. Das 4 Songs pro Album-Dogma wurde aufgegeben, die Stücke sind erstaunlich kurz („Thuja Magus Imperium“ ist mit 11:44 Minuten der längste). Auf „Two Hunters“ hätte diese Herangehensweise nicht funktioniert, denn seine wenigen, aber prägnanten Ideen pro Song verlangten nach gewissenhafter Ausarbeitung und Unterordnung gegenüber der Atmosphäre. Auf „Black Cascade“ hatten die Songideen nichts, dem sie sich unterordnen konnten (und das ihnen also Sinn verlieh). Also mussten die Kompositionsprinzipien geändert werden. Statt Ausdehnung jetzt also Verdichtung – und es ist erstaunlich, wie gut es hier funktioniert. Der Opener „Thuja Magus Imperium“, ihr vielleicht bester Song, bringt auf den Punkt, was „Celestial Lineage“ ausmacht: Schon dieser erste und absolut beeindruckende Auftritt der wieder mit der Band zusammenarbeitenden Jessika Kenney erfüllt den Klangraum mit einer großen, elektrisierenden Spannung. Man hat diese Stimme vermisst, doch noch mehr hat man die Umgebung vermisst, in der sie wirken könnte und die ihr „Black Cascade“ nicht bot. Dabei hängt auch der beste Spannungsaufbau von seiner möglichst wirksamen Auflösung ab (looking at YOU, Echtra), und auch hier geben Wolves In The Throne Room sich keine Blöße. Es folgen: Wolkenbrüche, Hagelstürme, ein kurzes, aber schier zerreißend intensives Gitarrensolo, ein hochdynamisches Drumming, das gegen die Selbstbeherrschung angehtt, welche auf dem Vorgängeralbum kultiviert wurde, Melodiebögen von einer Größe, die man, egal, wieviel man von der Band vorher hielt, ihr nicht zugetraut hätte. Kaum zu fassen, wieviel Selbstbewusstsein Wolves In The Throne Room in den zwei Jahren seit „Black Cascade“ erlangt haben. Der höchste Crescendomoment ausgedehnt auf elf Minuten, Sinn gleicht Besinnungslosigkeit, gleißende Helligkeit tiefster Schwärze. In seiner Art, wie es Intensitätshöhepunkte aneinanderreiht (und dabei die Nahtstellen komplett verschwinden lässt – hier ist alles ein organisches Ganzes), fühlt „Thuja Magus Imperium“ sich an, als würde der Körper von mehreren Tausend Volt durchströmt werden. Das Beste an „Celestial Lineage“: Genau dieses Grundgefühl wird auf den folgenden Songs beibehalten.

Auch im kaum zweiminütigen Interludium „Permanent Changes in Consciousness“ kommt der Puls nicht wieder herunter auf einen Normalwert. Es scheint hier wie auch in „Rainbow Illness“ nicht viel zu passieren, doch das klangliche Gesamtbild präsentiert sich als eine impressionistische Aufschichtungsarbeit, mit deren Entschlüsselung und Neuzusammensetzung man Stunden verbringen könnte. Jedes kleine Detail ist faszinierend und bringt das Gesamtwerk umso mehr zum Strahlen. Weil Wolves In The Throne Room hier alles und sofort wollen, die innere Einkehr genauso wie die Ekstase, die virtuose Kompositionskunst genauso wie den atmosphärischen Blindgang, gilt auf „Celestial Lineage“ das Unterordnungsprinzip nicht mehr. Nun war schon oft das Einzige, wessen sich Künstler, die alles und sofort wollten, rühmen konnten, das noble Scheitern. Bei WITTR wird diese nur scheinbare Überambition dabei nicht zum Stolperstein, sondern zum Motor ihrer Songs. Dass die Band nicht den Zeitpunkt abwartet, an dem es am besten ist, einen bestimmten Trumpf auszuspielen, sorgt völlig überraschend für ein überwältigendes Ergebnis. So schwächen die kristallinen Synthesizer die rohe Wucht von „Subterranean Initiation“ zu keinem Moment ab, sondern gebären im Schlussteil eine Melodie, die den Song erst vollendet. Auch die recht angriffslustige Gesamtattitüde von „Astral Blood“ wird nicht vom Einbruch des Unerwarteten in den Schatten gestellt. Die pendelnde Tonfolge, die die Harfe einleitet, ist ein Walzer auf Black Metal-Fundament, immer entlang am Rand der Klippe und mit dem Blick auf den Abgrund gerichtet.

Auch Ruheinseln entwickeln hier ihre ureigene Anziehungskraft. „Woodland Cathedral“ verharrt in seiner sakralen Starre und ambientalen Rhythmuslosigkeit. Stark verzerrte, aber vollkommen ruhige Gitarren und Orgeln steigen langsam auf und setzen sich an den inneren Wänden der Kirchenkuppel ab. Jessika Kenneys Choralarrangements sind der Mittelpunkt dieses Stücks und das irreale, aber warme Leuchten, das von ihm ausgeht. Für einen Moment können sie sich in die Höhe schrauben und gegen die Harmonie des Songs angehen, dann fangen sie den Hörer mit seinem erschütterten Gravitätssinn aber umso zärtlicher wieder auf. Das Versinken und Auflösen ist sanft und langsam, am Ende ist man alles, und nichts. Der Schlusstrack „Prayer of Transformation“ ist schließlich ein Requiem, ein Todesmarsch, der seine gravitätische Schönheit durch keine Stimmungs- oder Tempowechsel bricht oder infrage stellt. Hier kehrt ein Album, das zuvor durch einen erhellenden, maßlosen Wahnsinn geglänzt hat, in sich, und findet seinen bestmöglichen Abschluss.

„Celestial Lineage“ ist ein gewaltiger Befreiungsschlag. Diese Musik hat keine Verwurzelung in der kleinen, verschworenen neuen USBM-Subszene mehr, die nun von gewissenhaften Minimalisten im Geiste Weaklings wie zum Beispiel Fell Voices, Ash Borer und Lake of Blood beackert wird und der „Black Cascade“ noch in seinem Unterton Tribut gezollt hat. Hier gibt es keine verschiedenen Länderschulen mehr, es werden keine geographischen Grenzen überschritten, wo es keine gibt. Wolves In The Throne Room entsagen hier aber auch den selbstauferlegten Beschränkungen. Daran, was „Celestial Lineage“ an Einfallsreichtum und Intensität in die Waagschale wirft, wäre „Two Hunters“ zerbrochen. Nun heißt dies aber nicht, dieses so wunderbar gelungene Album würde seine Vorgänger in meiner Gunst durch den direkten Vergleich noch sinken lassen – sein Glanz erhellt sie. Beide bekommen ihre dramaturgische Funktion in der Trilogie. Einen besseren Abschluss – sowohl für den Konzeptzyklus als auch für die Bandlaufbahn – hätte es nicht geben können.

http://www.youtube.com/watch?v=1AdfkejJDao

2. EMA – Past Life Martyred Saints

Spricht man im Indiekontext aktuell von einem Retrotrend, dann meint man damit vor allem, dass viele Bands und MusikerInnen ihre kreativen Auswürfe mit deutlichen 80er-Bezügen ausstatten. Das kennt man vom Post-Punk-/Dark Wave-Revivalismus von Interpol, Editors und Konsorten, aber auch die Singer-Songwriter-Damenriege gab sich in den letzten Jahren gerne den Anstrich der Nachlassverwalterinnen. Künstlerinnen und Bands wie Soap&Skin, Zola Jesus sowie Esben and the Witch und Austra beziehen sich in ihrem Schaffen mehr oder weniger eindeutig auf Siouxsie and the Banshees, Cocteau Twins, This Mortal Coil und Nico, die erste Grande Dame des Gothic, bevor es Gothic überhaupt gab (äh, zum besseren Verständnis: Nico = 60er-/70er-Ausnahme). Dies veranlasste schon große Teile des Feuilletons (komischerweise nicht die dafür „zuständige“ Szenepresse), von einer Renaissance zu sprechen, neuen großen Sternen am schwarzen Firmament.
EMA wird mit und nach ihrem Solo-Debüt „Past Life Martyred Saints“ vermutlich noch oft mit ebendiesen Bands und Sängerinnen in Verbindung gebracht werden. Die wichtigsten Unterschiede ergeben sich aber daraus, dass sie ihre Haupteinflüsse schon aus dem folgenden Jahrzehnt bezieht.

Im Gegensatz zu den Goth-Revival-Blassnasen verbringt sie ihre Tage und Nächte nicht in den stickigen, abgedunkelten Räumen des „Batcave“ in England, sondern an der sengenden Sonne Kaliforniens. Der Klang ist hell und heiß, das Fundament eindeutig Rock, die generös noisige Verzerrung stößt die Gitarren nicht selten in Richtung Stoner. Das klingt teilweise nach dem Slackerindie von Pavement und den zutraulicheren 90er-Arbeiten von Sonic Youth. Der noch bodenständige Shoegaze/Dream Pop von Slowdive – Souvlaki huscht ebenso kurz durchs Bild wie die ernsten und düsteren Momente von Lush, selbstversunkener Slowcore und die Songskizzen von Lisa Germano. Vor allem aber macht sich Erika M. Anderson am Grunge und Riot Grrrl zu schaffen und holt nachträglich heraus, was schon immer in beiden Bereichen steckte. Hier hätten damalige Szeneprotagonisten allen Grund, sich zu ärgern, dass sie diese Songs nicht geschrieben und das Ausdrucksspektrum des eigenen Wirkungsbereichs übersehen haben.

Nun wäre „Past Life Martyred Saints“ aber ein Vergnügen mit nicht weiter erwähnenswerter Halbwertszeit, wenn es lediglich eine postmoderne Reise durch Madame Andersons gut sortierte Plattensammlung wäre. Um die Ansammlung von Zitaten zu mehr, zu genuiner Kunst zu machen, braucht es eine, die dem ganzen Kram Leben und Charakter einhaucht. EMA schafft dies, macht das ganze komplexe Netz aus Referenzen vergessen, das Blogger und Journalisten um sie herum gesponnen haben. Für 38 Minuten ist nichts wichtiger als das, was sie zu sagen hat, weil diese sonore, sinnlich tiefe, kraftvolle Stimme, die einem immer und gerne zu nahe kommt, sofort von diesem Lauf der Dinge überzeugt. Bevor es zu diesem Album überhaupt kommen konnte, musste Anderson sich ein Jahr lang durch konzentrierte persönliche Tiefschläge kämpfen. Ihre erste Band Gowns, mit der sie unaufgeräumte, freiförmige Stücke zwischen Freak Folk und elektronischem Unrat aufgenommen hat, zerbrach mit der Beziehung zwischen ihr und Bandmitglied Ezra Buchla. Die Liebe und die Trennung spiegeln sich in vielen der hier zusammengekehrten Songscherben. Fast wären ihre Solo-Ambitionen lediglich „Little Sketches On Tape“ geblieben, die Rettung durch eine Labelanfrage kam quasi im letzten Moment. Es ist mir zwar unangenehm, ihr dieses dezent blöde Authentizitätsstigma anheften zu wollen, aber möglicherweise wäre „Past Life Martyred Saints“ nicht so gut geworden, hätte Anderson dieses Tal nicht durchschritten.

Es ist eine disparate, zerwühlte Platte geworden, die als Album vielleicht gar nicht so gut funktionieren dürfte, wie sie es tut. Konsequenz ist doch ein albernes Konstrukt, schon die Überkategorie Lo-Fi lässt sich auf PLMS nicht anwenden, weil Anderson nicht alle Songs im Schlafzimmerzustand belassen wollte. Der Opener „The Grey Ship“, eine der schönsten und betörendsten Songwelten des Jahres, ist ungeahnt filigran, sucht nach Lagerfeuer-Anfang nach der verwunschenen Bassline, die sich davongestohlen hat und sich im Gebüsch versteckt. Bevor das Stück Warpaint oder einem schwebend schönen Finale zu nahe kommen kann, holt EMA die Gitarrenbrechstange raus, und am Ende gibt es doch den Rückzug in sich selbst mit gebrochenen Knochen und Willen. „Great grandmother lived on the prairie / nothing and nothing and nothing and nothing / I got the same feeling inside of me / nothing and nothing and nothing and nothing“. Ausgerechnet „Marked“, dieses Homerecording-Songfragment, ist dann klanglich annähernd genauso beeindruckend. Den alten Gowns-Song befreit EMA von allem Müll und Seetang, der im Original an ihm hing und ihn ausmachte. In der neuen Version findet er auf engstem Raum statt, versteckt im Wandschrank als Kerzenfeuer in den Händen. EMA legt dazu die Hände auf die Schultern des Hörers und flüstert ganz nah und ganz sanft an sein Ohr. „I wish that every time he touched me left a mark.“

Wer je eine bessere musikalische Verarbeitung von autoaggressivem Verhalten finden sollte, der soll mir Bescheid geben. Im übernächsten Song „Butterfly Knife“ singt Anderson mit so viel Wut, wie sie auf einmal ausspeien kann, über ein Goth-Kid an ihrer früheren High School. „Marked“ widmet sich ihm mit mehr Verständnis als alle seine mutmaßlichen Lieblingsbands. Überhaupt zieht sich die Körperlichkeit durch das ganze Album, Erika M. Anderson ist hier eine einzige offene Wunde. Was könnte besser als Code für Verzweiflung geeinget sein als blaugeschlagene Augen, aufgeplatzte Lippen, fließendes Blut, gebrochene Knochen? Solange man „Past Life Martyred Saints“ hört und von seinem Nachwirken eingenommen ist – tatsächlich nichts. EMA macht keinen Unterschied zwischen Zärtlichkeit und Brutalität, Verletzlichkeit und Angriffslust. Das äußert sich einerseits in der Art, wie bei „Anteroom“ und „Breakfast“ ätzender Gitarrenkrach die Ruhe stört. Andererseits kommt der innere Widerspruch auch in „California“ durch, der Blues-verwurzelten beinahe-Hymne, bei der Anderson mit gebündelten Kräften Unmengen an Galle über diesem zerstörerischen Moloch von Land ergießt und doch nach jeder Zeile näher am Kollaps scheint.

Diese Herangehensweise steht eindeutig in der Tradition von „Rid of Me“, dem extrem gewalttätigen, sexualisierten, wahnsinnigen, ultimativ schmutzigen Seelendreck-Album einer jungen PJ Harvey, die aktuell mit Geisterwaldfolk gegen ihre Heimat England ins Feld zieht. Es geht auch hier im Grunde um Liebe – enttäuschte Liebe – und die Erlösung im Schmerz. Und die gibt es hier tatsächlich an genau der richtigen Stelle. Schlusssong „Red Star“ glänzt mit Stonergitarre und nur scheinbarer Entspannung, denn im Finale denkt Anderson nicht mal daran, auch nur verbrannte Erde zurückzulassen. Soll die rote Sonne den blauen Planeten doch verschlucken. Augen immer schön offen halten; wer blinzelt, verliert. Brennende Netzhaut hat sich aber auch selten so ekstatisch und schön angefühlt. Die finale Lichtexplosion klingt dann tatsächlich nach „Seven“ von The God Machine (deren „Scenes From The Second Storey“ immerhin das beste Album aller Zeiten ist). „If you won’t love me someone will.“

Zu groß und zu wichtig, um nach der Jahresbestof vergessen zu werden. Wollen wir hoffen, dass EMA eine ebenso lange Karriere bevorsteht wie der Dame, mit der sie sich momentan noch messen muss.

http://www.youtube.com/watch?v=UV8rpX_-6Gw