Re: Jahresbilanz 2011: Highlights, Lowlights und alles andere

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palez

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1. PJ Harvey – Let England Shake

Ich gebe zu, 2011 hatten die Musik und ich so etwas wie eine Beziehungskrise. Nun mag dies vor allem an mir und persönlichem Stress gelegen haben, doch dieses Jahr war für mich, gerade was aktuelle Veröffentlichungen betrifft, eines der langweiligsten, die ich als Musikkonsument aktiv erlebt habe. „Let England Shake“ ist, ich gebe es unumwunden zu, ein Verlegenheitssieger, der in meiner Gunst den zwei bis drei Alben auf den folgenden Plätzen eigentlich nicht viel voraus hat.
Was bringt mich also dazu, einem Album meine persönliche Jahres-Goldmedaille zu verleihen, von dem ich doch offenbar selbst nicht absolut überzeugt bin? Wieso ziehe ich „Let England Shake“, das in der Diskographie von Polly Jean Harvey nicht einmal den gewagtesten Sprung darstellt, einer Band wie SubRosa vor, die mit „No Help For The Mighty Ones“ dem Metal höchst originelle Facetten abgerungen hat? Wieso ziehe ich „Let England Shake“, das für mich bei weitem nicht beste Album in PJ Harveys Diskographie, einem Werk wie „Celestial Lineage“ vor, mit dem Wolves In The Throne Room all ihre Möglichkeiten soweit ausgeschöpft haben, dass sie sich danach beruhigt auflösen konnten? Wieso ziehe ich „Let England Shake“, das (wenn man Demos und Zusammenarbeiten mit John Parish nicht mitzählt) achte Album von PJ Harvey, mit dessen Veröffentlichung sie so sehr zum Kritiker- und „Rolling Stone“-Liebling wurde wie nie zuvor, einer jungen und hungrigen Künstlerin wie EMA vor, die mit „Past Life Martyred Saints“ dorthin zielte, wo es am meisten wehtut?
Weil „Let England Shake“ so sehr wie kein zweites mir bekanntes Album aus 2011 über den Dingen schwebt und weil diese Erhabenheit und Transzendenz letztendlich das sind, was das beste Album eines Jahres ausmachen sollte.

Für dieses Album hat Polly Jean Harvey sich mit einem für sie neuen Instrument befasst, das zweite Mal, nachdem der Kampf mit dem Klavier und sich selbst den Vorgänger „White Chalk“ schon so groß gemacht hatte. Fast das ganze Album komponierte Harvey auf der Autoharp, einem Zither-ähnlichen Musikinstrument, welches vor allem im amerikanischen Bluegrass, Country und Folk Verwendung findet. Wie schon bei „White Chalk“ musste die kompositorische Herangehensweise den spielerischen Fertigkeiten angepasst werden. Auf wenigen einfachen Akkorden beruhend, wurden die Songs (im Vergleich zum Indie-Blues-Rock, für den PJ Harvey bekannt ist) melodischer und einfacher, wurzeln jetzt oft im besagten Bluegrass, Country und Folk, aus dem die Autoharp importiert wurde. Die Simplizität schafft eine Verwandtschaft zu Volksliedern, zu ihrer von Autoren losgelösten Anonymität ebenso wie zu ihrer altertümlichen Romantik und Mystik. Mehr noch als die Songgerüste ist es der individuelle Klang der Autoharp auf diesem Album, der ihm seine spezielle Atmosphäre verleiht. Ein ätherisches, mehrdimensionales Zittern zieht sich gleich kühlem, unwirklichem Nebel durch die Songs. Harveys nach „White Chalk“ abermals unnatürlich hohe Stimme wird zur Stimme von Waldgeistern, ruhelosen Seelen, der Natur selbst. Auch, wenn es insgesamt bessere Alben von ihr geben mag, keines der Alben von PJ Harvey hat es bisher geschafft, sich auf vergleichbare Art von allem Profanen und Irdischen zu lösen wie „Let England Shake“.

Harvey schafft auf „Let England Shake“ eine verzauberte Welt, durch die sie mit ihrer Autoharp jenseits aller Analysebemühungen und Greifbarkeit irrlichtert und die dem Hörer das Verstehenwollen entfremdet und ihn zum Glauben und zur Versenkung zwingt. Lange – und vielleicht nie – klang PJ Harvey so leuchtend und hinreißend schön, so hell, einladend und regelrecht beschwingt. Zu „Let England Shake“ führt man die Hand durch sich im Winde neigende Ährenfelder, während die Dämmerungssonne den Himmel rot und gelb und orange färbt. Das Album wäre mit dieser Ausgangslage so luftig, dass es sich in der Belanglosigkeit auflösen würde, lebt aber auch von seinem unüberwindbaren inneren Widerspruch. Die Texte entfernen sich zum ersten Mal im Harveys Karriere, was eine viel größere Neuerung darstellt als alle Richtungswechsel auf der musikalischen Seite, vom individuellen, psychologischen Fokus auf PJ Harveys jeweilige Albumpersona und gehen in die Totale: heißt, sie werden gewissermaßen politisch. Natürlich ist es auf dem ersten Blick hoffnungslos untertrieben, angesichts ihrer Explizität die Texte mit einem zaghaften „gewissermaßen politisch“ zu beschreiben. Polly Jean Harvey berichtet vom Krieg, allgemein genauso wie von konkreten Beispielen (Anzac Cove, Afghanistan, Irak), aus der Sicht eines Einzelnen genauso wie als richtende auktoriale Erzählerin. Sie berichtet von ihrer Heimat England als einem disparaten, zerrissenen, widersprüchlichen Land, in dem sich immer deutlicher der hohe Preis zeigt, mit dem Wohlstand und Ansehen erkauft wurden. Sie tut dies in einer konzisen und schlichten Sprache, die in anderen Zusammenhängen wohl naiv genannt werden müsste. Und sie tut dies mit dem Kampfgeist einer Verletzten, die nur deshalb in ihren persönlichen Krieg gegen ihr Land zieht, weil es ihr so viel bedeutet.

Die Anti-Bush-Protestwelle hat vor einigen Jahren gezeigt, wie anbiedernd und stumpf sogenannte politische Statements von Rock- und Popmusikern ausfallen können. Wegen der ungewöhnlichen Verbindung von maximaler textlicher Weltlichkeit und maximaler musikalischer Weltlosgelöstheit tappt PJ Harvey nicht in diese Falle. Wie so eine Synthese angesichts ihrer offensichtlichen inneren Paradoxie funktionieren soll? „Let England Shake“ gibt darauf keine Antwort, zumindest keine, die sich in Worte kleiden ließe, und genau das macht das Album so faszinierend. In diesem extremen Spannungsverhältnis entstehen die besten Songs. Man nehme zum Beispiel „The Words That Maketh Murder“, das offensichtlich böseste Stück auf „Let England Shake“, das einen auf hinterhältige Weise dennoch zum Fußwippen und Mitsummen einlädt. Oder „The Glorious Land“, ein schwindsüchtiges und dennoch ungemein kraftvolles und bedrohliches Stück, wenn das Frage-Antwort-Spiel am Ende zu einer wütenden Anklage wird. And what is the glorious fruit of our land? The fruit is orphaned children. Oder „All and Everyone“ und „On Battleship Hill“, zwei wahre Songgiganten in der Albummitte. Ersterer besitzt dabei noch am ehesten Ähnlichkeiten zu Harveys älteren Werken; in den Strophen singt sie mit der wohlbekannten sonoren Stimme, der Song breitet sich über folkloristische Strukturdogmen hinaus aus und die Akkorde drängen wütend und kampfbereit. Die Musik ist so unüberblickbar groß wie der Tod. Death was all and everyone. Letzterer legt sich wie Nebelschwaden über verwüstete Landstriche, der tödliche, kalte Atem der Geschichte. PJ Harveys körperlos hohe, vervielfachte Stimme beweint die Gefallenen und Vergessenen. Even now, 80 years later, cruel nature, cruel cruel nature.

Nun hätte ich mir die ganze übermäßig kritische Einleitung sparen können, hätte Harvey das Qualitäts- und Intensitätslevel auf Albumlänge durchgehalten. Nach „On Battleship Hill“ passiert aber irgendetwas Seltsames mit „Let England Shake“. Im rhythmuslosen „England“ klagt sie wie der gefallene Ikarus und kann von nun an nicht immer aufs Neue bewerkstelligen, dass wie anfangs die Füße keinen Bodenkontakt mehr haben. Oft fehlt den Songs der zweiten Albumhälfte die Magie, die Aura des Unwirklichen. Es mag daran liegen, dass die gespenstische Autoharp die folgenden Stücke größtenteils nicht mehr so sehr beherrscht wie die ersten, dass vermehrt wieder Rockelemente Einzug erhalten. Der wolkige Dreampop von „Written on the Forehead“ bildet die einzige wirkliche Ausnahme.
Aber es lassen sich natürlich auch in Bodennähe Momente von poetischer Schönheit ausmachen. „In The Dark Places“ startet im ganz Kleinen und Privaten – We got up early, washed our faces – und geht über ins ganz Große, Mythische: And not one man has, not one woman has revealed the secrets of this world. Das großangelegte, hymnische Finale wendet sich schließlich an die ganze Welt, wenn es von jungen Männern im Krieg erzählt. Und „The Colour of the Earth“ berichtet schließlich in bester Handsome-Family-Manier von einem exemplarischen Einzelschicksal.

Dem allgemeinen Pressetenor, der „Let England Shake“ als das beste und wichtigste Album Harveys bezeichnet, kann ich nicht zustimmen. Die Aufstände in London, die fast unmittelbar auf die Veröffentlichung folgten, mögen das Album als ein prophetisches Werk erscheinen lassen und ihm Rückenwind geben, doch Superlative würden hier nur frühere Leistungen schmälern. Im Grunde ist „Let England Shake“ für mich, trotz, bzw. gerade wegen seiner Besonderheiten, „lediglich“ ein weiteres Glied in einer Kette. Die hohe Qualität hat bei Polly Jean Harvey genauso Tradition wie die ständige musikalische (und textliche) Neuausrichtung. „Let England Shake“ ist diskographieintern meiner Meinung nach kein Ausnahmealbum, oder zumindest nicht mehr als alle anderen, aber eine Bestätigung für die allgemeine künstlerische Ausnahmestellung von PJ Harvey.

Sehr sehenswert sind übrigens die zwölf Kurzfilme („Musikvideo“ würde hier der Sache nicht gerecht werden) zur Lage der Nation:

http://www.youtube.com/watch?v=rryc8Kjzx6M&feature=relmfu
http://www.youtube.com/watch?v=Qn7qKXPGZ-A&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=lHACHdNFH0Y