Re: Anddies Mottenkiste: Die 70er Jahre

#6328367  | PERMALINK

palez

Registriert seit: 04.01.2007

Beiträge: 10,795

So gut ich „The Dark Side Of The Moon“ selbst finde, der Thread braucht wieder einen Gegenentwurf. Drum lasst mich euch eine Geschichte erzählen aus einer Zeit, in der es noch nicht an der Anzahl der nach unten zeigenden Daumen unter einem Youtube-Video gemessen wurde, wer der aktuell meistegasste Musiker oder die meistgehasste Band der Welt ist, sondern in auf die Bühne fliegenden Gegenständen; von einer Zeit, als Punk gerade alt genug war, von seinen ersten Dogmatikern überrant zu werden, und es also wert war, vernichtet zu werden. Die Geschichte spielt im Jahre 1977 und kreist um Alan Vega und Martin Rev, ihre Band Suicide und ihr selbstbetiteltes Debüt.

Die Wurzeln der Band reichen dabei bis an den Anfang der 70er. Die Musik stand anfangs nicht für sich; die mit billigstem Equipment erzeugten Geräuschkulissen untermalten die Ausstellungen des Bildhauers Alan Vega. Eine dieser musikalisch verstärkten Vernissagen wurde November 1970 mit den Worten „punk music mass“ beworben, womit Suicide zwar vermutlich nicht die ersten waren, die diesen Terminus im Zusammenhang mit Musik verwendeten, aber dennoch zu den Geburtshelfern des prototypischen Punk gezählt werden können. Nach dem Zusammenbruch des Mercer Arts Center führte der Weg die frisch etablierte Live-Band natürlich auch ins CBGBs, den berühmten New Yorker Club, der davor und danach noch zahlreichen Bands, Musikern und Subkulturen als Geburtsstätte diente. Nun besiegelte die Live-Situation schon sowohl Suicides Legendenruf als auch ihr Scheitern, noch bevor das Duo überhaupt einen Tonträger veröffentlicht hatte. Das Tondokument „23 Minutes Over Brussels“, ein Mitschnitt eines abgebrochenen Konzerts im Vorprogramm von Elvis Costello, zeigt eindrucksvoll, wie es damals bei Suicide vor der Bühne zugegangen sein muss, 1978. Klappstühle flogen auf die Bühne (was nicht einmal das Gefährlichste war, das die Köpfe von Vega und Rev knapp verfehlte; auf einem anderen Konzert war es eine Axt), das Mikrofon verschwand irgendwo in der Menschenmasse, unter Buhrufen verließ die Band die Bühne. Hauptact Elvis Costello reagierte darauf mit einem furiosen, lediglich 30-minütigen Set, das in einer Polizeiintervention und der Verwendung von Tränengas endete. Es gab unzählige Dinge an der Erscheinung und Musik von Suicide, womit sie das Publikum vermutlich beleidigt haben. Eines dieser Dinge war wohl schon die banale Tatsache, dass die Band weder einen Gitarristen noch einen Drummer hatte.

Wer die ungeschönte Realität, die eigene Wut und Gegenhaltung vertonen will, muss seinen Sound von allen Schnörkeln befreien. Aus Opposition gegen die Mammut-Muckershows, zu denen Prog- und Hard Rock-Konzerte Mitte der 70er auswuchsen, hielten die Punks sich an das Primitive, das Plakative. Keine Ansätze an Virtuosität, keine Soli, kein Wort zuviel. Punk entschlackte Rockmusik, indem er sie auf das (vermeintlich) Nötigste reduzierte. Suicide brauchten für ihre Idee von Punk noch viel weniger als das.

Anstatt eines Drummers ohne Rhythmusgefühl gibt es nun einen Martin Rev mit ebensowenig Rhythmusgefühl und in jedem Song einen geloopten Beat, der aggressiv angeht gegen jedes Verständnis von Groove. Wie eine mit Wasser übergossene Nähmaschine ohne dasn nötige Stück Stoff zum Vernähen läuft dieses beständige Tackern aus dem Kassettenrekorder heiß, völlig haltlos, völlig körperlos, völlig sinnlos. Wie ein kaputter Duracell-Hase, wie ein kopfloses Huhn. Der Opener „Ghost Rider“ findet dennoch zu seiner vollkommen irrealen, wahnsinnigen Energie, die so im Rockkontext nicht hätte generiert werden können. Für den melodischen Überbau sorgen windschiefe Synthesizerklänge, die die gesamte Palette dessen umfassen, was in irgendeiner Form Zahnschmerzen verursacht. Ihr schäbiger Klang war dabei nur zum Teil lediglich eine sehr gute Idee, die Gesamtattitüde Suicides ist auch aus der Not der Armut heraus geboren worden. Wer teils tagelang in seiner New Yorker Wohnung ausharren musste ohne die Aussicht auf ein Sandwich im Kühlschrank, hat keinen Nerv, sich um gutes Equipment zu kümmern. Alan Vega gibt mit seinem Sprechgesang dazu einen bulimischen Elvis, der sich mit aus ihren Höhlen tretenden Augen an den Mikrofonständer klammert. Die verräterische, wenn auch entstellte Ähnlichkeit in den Phrasierungen ist da, aber man muss lange nach ihr suchen. In etwa genauso sieht auch das Verhältnis aus zwischen dem Sound von Suicide und dem, was bisher unter Rock, Punk und elektronischer Musik verstanden wurde.

Auf ähnliche Weise wird mit allem verfahren, was Musik und Texte ansprechen und implizieren. Dieser an einem Tag und in lediglich drei Stunden aufgenommene Hauch von Nichts, der dem Hörer als ein tödlicher Schwall von Mundgeruch entgegenweht, bietet einen Assoziationsspielraum, der unendlich weit über ihn hinausgeht. „Suicide“ ist eine Sammelstelle für weggeworfene Artefakte amerikanischer Massenkultur: Comics. Flipperautomaten. Pulp Fiction. Dreckige Spritzen. Flackernde Leuchtbuchstaben. Lederjacken. Motorräder. Vietnamtrauma. Pomade. Amokläufe. Revolte. Fernsehen. Existenzminumum. Pornohefte. Suicide kommen zwar aus der Untergrund-Kunstszene New Yorks und haben einen Jazz-Background, sie kennen aber auch die Straße und die Gosse (und das war vor fast 35 Jahren gewiss noch nicht so unvereinbar, wie es hier klingt) und bringen dies auch in ihrer Musik zum Ausdruck. Es ist eine Wahrheit, die der zerbrochene, dreckige Spiegel zeigt, und genau das macht das Bild so angsteinflößend. Suicide geben sich gern den Anstrich des Weggeworfenen, Unwichtigen, scheinbar Trivialen, finden dann aber das Grauen darin, zentrieren und vergrößern es, bis es einen von jeder Ecke des Raumes aus anschreit.

Gerade im Gesang zeigt sich die Effektivität dieser listigen Verzögerungstaktik. Alan Vega singt, nein, spricht, nein, schwatzt in manchen Songs mit einer Unverbundenheit, als ob es tatsächlich um nichts ginge, als wäre das Gesagte wirklich lächerlich bedeutungslos. In „Cheree“ und „Girl“ haucht Vega mit der Hand in der Hose banale Flirtfloskeln, während im Hintergrund eine verlangsamte Version des bekannten Minimal-Synth-Punk-Musters in Richtung schiefgegangene Pornomusik eiert. Das Flamboyante in Vegas stimmlichem Ausdruck verschleiert dabei nicht eine tiefsitzende Angst, die vom menschlichen Innenleben längst nur noch einen verrottenden Krater hinterlassen hat.

Hat diese Angst sich offenbart, tritt sie auch nicht mehr als leise surrender Antrieb der Musik in den Hintergrund; sie pocht in den Schläfen, lässt Kälteschauer den Körper durchzucken mit der Intensität von Elektroschocks und gleichzeitig in Sturzbächen Schweiß die Stirn hinunterfließen. Mit den Adrenalinschüben staut sich immer mehr Energie auf, während man von ebendiesen vollkommen gelähmt ist, kein Körperteil von der Stelle bewegen kann wie in den Lichtkegeln von näherkommenden Autoscheinwerfern. Das Lebensgefühl der Angst konzentriert sich hier im Wahn; einem sehr körperlichen, drogeninduzierten Wahn. „Suicide“ ist der wahrscheinlich schlimmste schlechte Trip, der je auf Tonträger gebannt wurde.

Alles zusammen, von allem viel zu viel, und dann kommt er schon, dieser kaum artikulierbare Geisteszustand, in dem die Stille das lauteste Geräusch ist und das Bewusstsein erschöpft im Lärm versinkt, in dem man an eine Wand gelehnt stundenlang dasitzt und mit glasigen Augen auf das stillstehende Bild starrt, das von unablässigen Zeitrafferbewegungen gebildet wird. Dieser Zustand wird zur Kulisse und zum Nährboden für den ultimativen Suicide-Signatursong: „Frankie Teardrop“. Die Geschichte um einen vom Leben überforderten Arbeiter, der Frau und Kind und schließlich sich selbst umbringt, wird in einfachen und reißerischen Schlagzeilenworten vorgetragen. Das geloopte Drumcomputerrattern und das stete Vibrieren im Hintergrund können nicht verbergen, dass der Song im Grunde keinen rhythmischen Halt hat. Der erste durch den Verzerrer gejagte Aufschrei um 3:34 geht noch als bloßer Buh-Effekt durch, während sich bei den folgenden, wesentlich längeren Schmerzensschreien die Fingernägel unwillkürlich in den Sessellehnen (oder was immer auch verfügbar sein mag) festkrallen. Die Konsternation löst sich auf in Verkehrsgeräuschen, auch nach dem Mord selbst dauert das Stück noch einige Minuten – der zerschossene Kiefer scheint gar zu lächeln. „We’re all Frankies / We’re all lying in hell“. Diese knapp zehneinhalb Minuten sind mit völliger Sicherheit das Verstörenste und Böseste an Musik, was in den 70ern veröffentlicht wurde – hands down.

Die Ablehnung, die Suicide und ihrem Musikentwurf, mit dem sie schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort waren, entgegenschlug, kam mehrheitlich vom Publikum. Bei Musikerkollegen fand die Band schnell zahlreiche Bewunderer – sowohl bei Zeitgenossen wie The Clash und Elvis Costello als auch bei Nachfolgegenerationen. Im Industrial (Rock) hat „Suicide“ größte Krater hinterlassen, im Punk größere, als man seinerzeit wahrhaben wollte. Auch Techno, der Digital Hardcore von Atari Teenage Riot, die gesamte Minimal-Sparte und die harmloseren, kultivierten Vertreter des Synthpop haben hier ihre Wurzeln. Der Synthesizer wurde zur unerschöpflichen Lärmquelle. Die No Wave-Szene wurde mit Suicide erwachsen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes; Lydia Lunch war gerade 16, als sie bei Alan Vega und Martin Rev Obdach und Zuflucht fand. Der absichtlich trashige New Rave von Crystal Castles, M.I.A., die für ihre brutale 2010er-Single „Bord Free“ „Ghost Rider“ samplete, der verstrahlte, noisige Neoshoegaze von HEALTH und A Place To Bury Strangers – auch und vor allem bei den „modernsten“ Vertretern alternativer Rockmusik im weitesten Sinne lässt sich der Ariadnefaden bis zu diesem Album zurückverfolgen. Und manchmal findet man Vegas und Revs Spuren da, wo man sie am wenigsten vermutet. Bruce Springsteens „State Trooper“, das außergewöhnlichste, fiebrigste und deshalb beste Stück auf „Nebraska“, ist laut ihm vor allem eine tiefe Verbeugung vor „Frankie Teardrop“.

Nun können Suicide nicht wirklich für sich reklamieren, irgendwas erfunden zu haben. Für die Elektrofizierung und Synthetisierung zeitgenössischer Rock- und Popmusik zeigen sich Kraftwerk und Silver Apples verantwortlich. Sie mögen die Geburtshelfer gewesen sein, Suicide nahmen der elektronischen Musik aber ihre Unschuld. Ihr Debüt fegte alle naiv-niedlichen retrofuturistischen Requisiten von der Weltbühne und nutzte den so entstandenen Freiraum für die möglicherweise konfrontativste und radikalste Musik, die bis dato denkbar war. Bei einer derartigen Wucht waren Optimierungsversuche, von denen es bis 2002 noch sechs gab, eigentlich gar nicht mehr nötig. Der Sound von Suicide provozierte, forderte heraus – daraus entstanden seine Urknallfunktion und der Reiz, der zahllose andere Bands und Künstler zu eigenen Ideen inspirierte. Und so wurde aus einer der meistgehassten eine der einflussreichsten Bands der 70er.

http://www.youtube.com/watch?v=jnCB-3jklfM (Welcher Film, außer natürlich Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“, jaja, könnte besser zu dieser Musik passen als „Taxi Driver“?)
http://www.youtube.com/watch?v=I75EpzRTzX0
http://www.youtube.com/watch?v=_5wJQkvSoOQ