Re: Nezys und Paulas musikalische Umkleidekabine mit Guckschlitz (mit Prüchtepunch [sic!], Éclairs und Stargästen)

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palez

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MARIE. Wohinaus
WOYZECK. Weiß ich’s?

(aus: „Woyzeck“, Georg Büchner)

The Black Heart Rebellion – Har Nevo

Du gehst Brennholz sammeln. Es ist windig, kühl, die Luft ist feucht und voll von Ozon. Du bist allein. Neben dir der Trampelpfad. Du drehst dich um; dein Haus hinter dir noch in Blickweite. Jemand atmet dir in den Nacken.
Du drehst dich um und siehst: Poren, Schweiß, weißbrennenden Blick, tiefe vertikale Stirnfalte. Das Gesicht erkennst du nicht sofort, aber du erkennst es, es ist das Gesicht eines Freundes. Kein Grund, keine Angst zu haben. Du weichst zurück, er nimmt dein Gesicht zwischen die Hände, natürlich kommt er dir zu nahe, natürlich natürlich natürlich, du drehst dich weg, doch er ist immer, wirklich immer in deinem Blickfeld. Mitkommen, zischt er, wichtig, und das glaubst du ihm auch, folgst ihm, was sollst du sonst auch machen. Dein Haus ist abgebrannt, der Trampelpfad verschwunden.

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So oder so ähnlich wird man mit „Avraham“ in „Har Nevo“ hineingezogen, das zweite Album der ex-gewöhnlichen ex-Screamo-Band The Black Heart Rebellion. Statt Envy-Deja Vus nun verlorene Waldwege zu fernen Referenzen, statt hellem Krach ein scharfgestellter Blick auf ein Instrumentarium, welches gleichzeitig größer und weniger dicht beieinander ist als früher. Genre-Einordnungen entzieht man sich gleich ganz – wer gezielt nach Dark Folk, Post-Rock oder Sludge sucht, wird den Rezensenten im Falle von „Har Nevo“ Etikettenschwindel vorwerfen. Und die fernen Referenzen, wie fern sind sie wirklich? Und wie sehen die überhaupt aus? Sind es etwa Woven Hand, wegen David Eugene Edwards‘ leidenschaftlich besungener religiöser Zerrissenheit? Oder wegen der Produktion von „Mosaic“, des räumlichen Klangs und des steten Brummens im Hintergrund, das die Stücke immer noch abgründiger klingen ließ, als sie eh schon komponiert waren? Sind es Neurosis, weil die sich auf „Enemy of the Sun“ so schön maßlos in Tribal-Exzessen gewälzt und Erde gefressen haben? Sind es Yakuza, weil Bruce Lamont manchmal wie ein gechillter, buddhabäuchiger Onkel vom Sänger von TBHR klingt, doch dieser andererseits: immer ausgehungert, atemlos, sehnig und verspannt vor dem geistigen Auge? Ist es der Soundtrack von „Valhalla Rising“, oder besser noch: der Film selbst, wäre er nicht so seelenruhig, wäre er vom Kamerateam hinter „Cloverfield“ aufgenommen worden? Ist es irgendein Vertreter des Künstlerkollektivs Church of Ra, dessen Mitglieder TBHR seit Neuestem sind? Sind es Swans, weil…äh…tja…und so, weißt was ich mein, ne? Ruft euch die Vergleiche ruhig wieder ins Gedächtnis und hört euch dann „Har Nevo“ an und rümpft die Nase über so viel musikjournalistisch nachgeplapperte Hilflosigkeit – es gibt schlichtweg keine Band die so klingt wie The Black Heart Rebellion.

Diese äußere Orientierungslosigkeit, die nur auffällt, wenn man versucht, über die Musik zu sprechen, durchsetzt auch das Innere der Songs auf „Har Nevo“. So negativ besetzt der Begriff „Berechenbarkeit“ auch anmutet – der Rezipient braucht sie, um sich sicher zu fühlen, um überhaupt irgendwas zu fühlen, wofür er einen Namen hat. The Black Heart Rebellion scheren sich in vielfacher Hinsicht einen Dreck darum. „Har Nevo“ setzt sich zusammen aus zahlreichen ungewöhnlichen bis auf dem ersten Blick hirnrissigen Entscheidungen. Gerade mal um die 40 Minuten und 8 Stücke Zeit geben The Black Heart Rebellion sich auf dem Album, irgendwie ziemlich wenig für vier Jahre Arbeit und eine große Last von Bedeutung. Dass die Musik deshalb von allem bereinigt sein müsste, was im Verdacht des Redundanten steht, ist eine fast schon banal selbstverständliche Erkenntnis – nur, dass sie nicht stimmt. Einen erstaunlich großen Teil der Spielzeit von „Har Nevo“ verbringt man mit Warten, obwohl man dafür eigentlich keine Zeit hat, wenn’s erstmal losgeht. Der Opener „Avraham“ ist ein gutes Beispiel, da er ein Drittel seiner knapp vier Minuten für Geräusche und Herumstreunen aufwendet, bevor er dem Hörer mit luftschnappendem Wahngesang, Tribal Drums wie bei einer rituellen Opferung und Gitarrendonnergrollen an die Kehle springt. Auch gut: Das jähe Ausbluten und irritierende Neueinsetzen von „Animalesque“, die unerwartete Talfart mitten in „Crawling Low And Eating Dust“. Gut, eine gemütlich-gewöhnliche Spannungskurve geben sie uns nicht, aber die Spannung ist doch immer präsent, es gibt kaum Stellen, an denen man sich nicht bedroht fühlt – irgendwann muss sich das Ganze doch auflösen? Irgendwann springen die Bluthunde hinter den Hecken hervor und irgendwann müssen die Gitarren laut und schwer aufdröhnen, um den Sludge-Bezug irgendwie zu rechtfertigen, oder? Oder? Nein. „Har Nevo“ fühlt sich in manchen Momenten an wie eine Metalplatte, eine Metalplatte ohne Metalriffs allerdings, denn auch wenn es hier Gitarren gibt, wirklich präsent dürfen sie nicht sein. Immer sieht man sie hinter Baumstämmen verschwinden, mal clean angeschlagen, mal Postrockrelay, aber fettriefend und zähnefletschend hervorbrechen können sie nicht, auch nicht an Stellen, an denen man nur darauf wartet. So schreien und drängen in „Animalesque“ und „Crawling Low And Eating Dust“ der Sänger und der Drummer mit Schaum vorm Mund, aber die Gitarren vibrieren weiter bedrohlich und formlos im Hintergrund wie ein nahendes Gewitter. Die Energie von The Black Heart Rebellion ist eine seltsam körperlose. Mal eben Erlösung durch Selbstgeißelung? Nichts da. Wäre ja auch schön einfach.

Und was, bitteschön, hat man davon, sich mit einem offenbar so unbefriedigenden, strukturell so konfusen Album zu beschäftigen, außer enttäuschten Erwartungen und Kopfschmerzen? Och, so Einiges. Ein Album, das, trotz allem, auf seinen ins Nichts führenden Wegen immer wieder an Bereichen musikalischer Harmonie und emotionaler Intensität Halt macht, die andere Bands nicht einmal streifen. Eine musikalische Odyssee, die eben dadurch über die gesamte Spielzeit aufregend bleibt, weil man nie weiß, wohin sie führt (zum Heiligen Land, das Moses versprochen wird, dem Konzeptmittelpunkt von „Har Nevo“, wahrscheinlich nicht – wäre ja auch zu einfach). Eine Herausforderung, in die man sich immer wieder verbeißt, weil das Pathos von „Har Nevo“ Gleichgültigkeit schlicht nicht zulässt. Und vor allem hat man auch gar keine Wahl: Wer auch nur wenige Schritte mitgeht, findet hier alleine nicht mehr raus.
Es ist wahrscheinlich leicht und bequem, nicht mehr an sowas zu glauben, aber The Black Heart Rebellion ist mit „Har Nevo“ ein leidenschaftliches, spannendes, genuin eigenständiges Album im Fahrwasser von Rockmusik gelungen, und das 2013. Zu disparat, zu unvollständig, um (jetzt schon) zum Album des Jahres erklärt zu werden – zu mitreißend, um es nicht doch zu sein.

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Du hast ihm zu schnell vertraut, das wusstest du. Nun harrst du aus, sitzt auf dem Ameisenhügel deiner Angst, schläfst unter regennassen Zweigen. Deine Weltsicht ist aus der Balance geraten. Du siehst die Welt nur noch aus seltsamen Perspektiven; von unten, in Schräglage. Oh sinnerman. Ihr lauft, lauft, flüchtet, du siehst nur seinen Rücken, aber solange du ihn siehst, bist du sicher. Ihr esst Regenwürmer, das feuchte Holz lässt sich nicht anzünden. Lange Tage, längere Nächte. Ihr wartet. Worauf? Manchmal wachst du auf, siehst sein Gesicht über deines gebeugt. Er blickt in deine Richtung, aber durch dich hindurch, auf etwas, was dir verborgen bleibt. I have grown close to you for better or for worse. Du kannst nicht weg – wohin auch? Du hast ihm zu schnell vertraut, das wusstest du. Oder? Nichts ist so unwiderstehlich wie ein Mensch, der den Verstand verloren hat.

http://theblackheartrebellion.bandcamp.com/album/har-nevo